Fotos: Westend-Presseagentur
Gemeinsam mit seiner Familie und Angehörigen hat die BSG Chemie Leipzig heute Meisterspieler und Vereinslegende Dr. Bernd Bauchspieß zu seiner letzten Ruhestätte auf dem Leipziger Südfriedhof begleitet.
Zum Fußballer Bernd Bauchspieß hielt Vereinschronist Jens Fuge eine bewegende Trauerrede. Der Text im Wortlaut:
Bernd Bauchspieß. Der Doktor. Der „Spießer“. Der „Spieß“.
Wie huldigt man einem, der zu den besten, den ehrgeizigsten, den strebsamsten, den konsequentesten gehörte?
Wie wird man einem gerecht, der Sport- und Fußballgeschichte schrieb, der weder sich noch seinen Gegner schonte, gleichzeitig aber etwas zutiefst humanistisches tat, indem er Medizin studierte, um dann Menschen helfen zu können?
Und wie spricht man über jemanden, der Zeitgeist verkörperte, es weit brachte in den beiden Systemen, in denen er lebte, aber es trotzdem verstand, meinungsstark zu sein, anzuecken und Widerspruch, ja sogar Widerstand zu provozieren?
Bernd Bauchspieß. Am Anfang, in Zeitz, stand er als 11-Jähriger auf dem Platz und fiel in den Jugendmannschaften zunächst nie besonders auf. Sogar mit 18 Jahren blieb seine Leistung in der „Ersten“ noch durchschnittlich.
Der Weg zum Klassespieler führte über einen Wechsel. Und eine Eintrittskarte. Als der etatmäßige Abwehrspieler zu seinem 17. Geburtstag ein Ticket für das Freundschaftsspiel SC Wismut Karl-Marx-Stadt gegen den 1. FC Kaiserslautern bekommt, nimmt seine Laufbahn eine Wende. Das Spiel vor 100 000 Zuschauern im Zentralstadion mit dem Jahrhunderttor von Fritz Walter hinterlässt riesigen Eindruck und so fasst Bernd den Entschluss, auch auf Torejagd zu gehen. Das Ticket kam übrigens vom ehemaligen Chemiker Fritz Gödicke…
Es folgen eine Leistungsexplosion und Einladungen in die Juniorenauswahl. In eben jener staunen sie nicht schlecht, als 1958 der Bernd plötzlich mit der Nummer 9 aufläuft und gegen die Rumänen gleich zwei Treffer erzielt. Bis dahin kannte man ihn als letzten Mann, aber jetzt hat er eine neue Rolle – die eines Stürmers.
Er kommt in die erste Mannschaft von Chemie Zeitz, avanciert dort zum Top-Torjäger, und das in einer krassen Außenseitermannschaft. Seine Robustheit und Härte holt er sich auf dem gefürchteten Zeitzer Hartplatz. Als Zeitz in die DDR-Oberliga aufsteigt, schießt der „Spießer“ in zwei Spieljahren 43 Tore und wird 1959 und 1960 zweimal hintereinander Torschützenkönig – und er bestreitet sein erstes Länderspiel.
Ihm, der als der kommende Starspieler gehandelt wurde und der gerade sein Abitur fertig hatte, wurde nahegelegt, zu Dynamo Berlin zu wechseln. Das tat er im Frühjahr 1961. Eine schwere Mandelentzündung stoppt ihn, er kam kaum zum Zug, und auch das so wichtige Wohlgefühl wollte sich nicht einstellen. Außerdem wollte er unbedingt Medizin studieren und hatte dafür auch eine Zusage bekommen – von der Uni Leipzig.
Dann kam im August 61 die unsägliche Mauer dazwischen. Bernd hatte sich bei Dynamo bereits abgemeldet, hielt sich in Zeitz auf, als sich die DDR einmauerte. Ihm wurde zur Last gelegt, dass er in einer Zeit der höchsten Gefahr für die DDR nicht mit der Waffe in der Hand die Grenzen beschützt habe.
Die Einbestellung zum höchsten Sportfunktionär der DDR, Manfred Ewald, folgte. Der eröffnete ihm, dass er fortan zwar Fußball spielen, sich aber die Genüsse eines Sportclubs abschminken könne. »Werden Sie ein guter Arzt, und dann reden wir irgendwann weiter«, sagte Ewald.
Also wieder Zeitz. „Spießer“ musste nur einmal die Woche trainieren und konnte sich ganz seinem Studium widmen. Sonntag morgens fuhr er nach Zeitz, spielte, und abends ging es wieder zurück nach Leipzig. So blieb genügend Zeit zum Lernen. Und im Café Corso oder im Coffe Baum saß und diskutierte er. Später sagte er, dass das zwei der wenigen Orte waren, an denen man noch das Gefühl hatte, frei seine Meinung sagen zu können.
Als er 1963 mitbekam, dass sich in Leipzig einiges tat, wollte er gern dabei sein – am liebsten beim SC Leipzig, wie er einmal bekannte. Vom Verband hieß es sogleich: »Bauchspieß nicht«. Im Nachhinein wieder ein Glücksfall für den Spießer. Er kam nach Leutzsch, zur BSG Chemie, zu Alfred Kunze. Und zu Manfred Walter. Der erinnert sich an ihre erste Begegnung, als er noch in Wurzen und Bauchspieß in Zeitz spielte. „Ich war Stopper und meinte, ihn gut im Griff gehabt zu haben“. Und der Spießer antwortete: „Das kann gut sein, Manner. Aber wir haben 2:0 gewonnen, und hast du mal geschaut, wer die Tore gemacht hat?“ Und Manner musste zugeben: Stimmt, die hat beide der Bernd geschossen…“
Bei Chemie explodiert die Leistung von Bernd Bauchspieß regelrecht. Das Tageblatt schrieb: „Er kann alles mit dem Ball. Er behält die Übersicht, dirigiert, gibt Maßvorlagen und ist stets im richtigen Augenblick im gegnerischen Strafraum, wenns gilt, ein Tor zu schießen. Und noch eins: Er ist auch ein Kämpfer, wie alle seine Mannschaftskameraden von Chemie. Er spielt sehr mannschaftsdienlich und ist bei weitem nicht das, was man einen Star nennt.“
Der Rest ist Geschichte. Chemie holt sensationell die Meisterschaft, zeigt es den Etablierten und den Funktionären. Die Fans spüren Genugtuung, die Bonzen schäumen. Und der Spießer genießt. Er nennt dieses epochale Ereignis später „das Ergebnis einer Trotzreaktion, die zusätzliche Kräfte freisetzte durch die Begeisterung der Zuschauer, die eine Auflehnung gegen die Herrschenden und die unfaire Delegierungspraxis jener Zeit war.“
Es folgt die Einladung zu den Olympischen Spielen 1964, zu denen er mit seinen Mannschaftskameraden von Chemie fährt, mit Klaus Lisiewicz und Manfred Walter.
Vorher muss er sich den Funktionären erklären, man befürchtet, dass er in den Westen abhauen will. Auswahltrainer Karoly Soos, ein Ungar, sieht das Ganze pragmatischer als die DDR-Funktionäre. Die Episode, als Bernd Bauchspieß ins Hotel Astoria bestellt wurde, ist legendär. Dort saßen die Funktionäre, und Soos fragte ihn unverblümt: „Na Spitzi, willst du nun abhauen oder nicht?« Er antwortete nur: »Ich habe meinen Studienplatz hier, meine Freunde, meine Eltern. Ich haue nicht ab«. Das war anscheinend überzeugend. Eine Woche später war Bauchspieß schon auf dem Weg nach Tokio.
Dort erzielte er auch das schönste Tor seiner Laufbahn, gegen den Iran. Im Spiel um Platz drei wird er nicht aufgeboten, erhält zunächst auch keine Medaille. Das ist enttäuschend für ihn, später bekommt er eine nachgereicht. Er schießt im weltberühmten Maracana-Stadion von Rio de Janeiro während der Südamerikareise der DDR-Nationalmannschaft im Dezember 64 ein Tor gegen Atletico Madrid, vor 140 000 Zuschauern. Es folgen Europapokalspiele mit Chemie, der Pokalsieg 1966, er wird zum dritten Mal Torschützenkönig der Oberliga. Atemberaubend.
Und während dieser gesamten Zeit geht er seinem Studium nach, trainiert wegen der Doppelbelastung oft im Morgengrauen, wie übrigens auch seine Mannschaftskameraden Horst Slaby und Schorsch Sannert. Trainer Alfred Kunze ließ seinen besten Mann sogar bei sich zu Hause wohnen, um ihn gegen die Ablenkungen des Alltags abzuschirmen, während sich der „Spießer“ in den Prüfungsvorbereitungen für sein Studium befand. 1969 ist es dann geschafft: Doktor Bernd Bauchspieß ist er jetzt, darf als Orthopäde praktizieren.
1971 erlebt er seine traurigste Stunde als Fußballer mit dem ersten Abstieg der BSG Chemie, er hilft, die Karre aus dem Dreck zu ziehen, hängt die berühmten Fußballschuhe 1973 an den Nagel. Er praktiziert als Orthopäde, arbeitet auch für den Fußballverband, ist gefragter Gesprächspartner und geachtetes Mitglied der Stadtgesellschaft.
Mit der Wende kommen neue Möglichkeiten. Er eröffnet eine eigene Praxis, engagiert sich in seinem alten Verein, der nun FC Sachsen heißt, ist dort erster Vizepräsident, später Aufsichtsrat und Ehrenrat. Er sieht seine Stasi-Akte ein. 400 Seiten umfasste sie, die darin vorgefundenen Namen erschütterten den Spießer und zeigten, dass er seit jener Zeit in Berlin als politisch unzuverlässig eingeschätzt und ihm jederzeit die Flucht aus der DDR zugetraut wurde.
Er erhebt seine Stimme und bringt sich 1989 scheulos in den Diskurs um eine diskutierte Fusion mit dem Erzrivalen aus Probstheida ein. Er sieht später das Engagement des österreichischen Getränkeherstellers in Leipzig nicht fundamental-kritisch. Und als sich die BSG Chemie 2008 neu erfindet und in den Spielbetrieb eintritt, ist der Spießer nicht euphorisch und unterstützt das kurz aufflackernde Gegenprojekt.
Und macht schließlich seinen Frieden mit der neuen BSG, als sein größter Erfolg euphorisch von den vielen jungen und alten Fans gefeiert wird, 2014 zum 50-jährigen Jubiläum der Deutschen Meisterschaft von 1964. Da fließen Tränen der Versöhnung und der Rührung, und da wird ihm klar, dass Namen nur Schall und Rauch sind, wenn die Dinge, die dahinterstehen, nicht gepflegt und gewürdigt werden. Er war wieder angekommen. Angekommen daheim.
Bernd Bauchspieß. Der Doktor. Der „Spießer“. Der „Spieß“.
Wir werden dich niemals vergessen.
Ruhe in Frieden.