
Foto: BSG Chemie Leipzig
Vor 70 Jahren: Die BSG auf den Spuren von Kara ben Nemsi
Genau 70 Jahre ist es her, dass unsere BSG Chemie als „Botschafter des Friedens“ eine große Reise antrat und die noch junge DDR als Deutscher Fußballmeister diplomatisch vertrat.

Im Jahr 1952 begab sich die BSG auf große Reise und wurde als Vertreter des jungen Sozialistischen Staates als erste deutsche Vertretung nach dem 2. Weltkrieg nach Albanien gesandt. Zur „Stärkung der Freundschaft zwischen den jungen Demokratien“ nahmen die Rose, Busch und Baumann die „längste, schwerste, aber auch schönste Reise einer deutschen Mannschaft“ auf sich.

2019 – Zu Besuch im Altersheim in Markranstädt. Es ist die Zeit kurz vor der Pandemie. Wir haben Rainer Baumann „wiedergefunden“, den ältesten damals noch lebenden Spieler der BSG Chemie. Er stieß nach dem Gewinn der ersten Meisterschaft 1951 nach Leutzsch zur Mannschaft und spielte ein reichliches Jahr für die BSG, ehe er in den Strudel der sportpolitischen Verwirrungen geriet zum zum KPV Vorwärts wechselte. Die Albanienreise begleitete der spätere Journalist („Theorie und Praxis der Körperkultur“, „Sportecho“, „Neue Fußballwoche“) als Spieler, hinterließ uns jedoch bunte und lebendige Schilderungen von jener Fahrt. Er übergab dem Museumsteam zwei Fotoalben, in denen ausführlich die Ereignisse jener Reise dokumentiert sind. Hinzu kommen etliche Schilderungen von Zeitzeugen sowie Artikel in der „fuwo“ jener Zeit.

Der Empfang im unbekannten Land war heiß und schockierend. Als die Spieler der BSG Chemie am 10. Mai 1952 in der albanischen Hafenstadt Durres an Land gingen, wurden sie Augen- und Ohrenzeugen von heftigem Flakfeuer. Luftalarm war ausgelöst worden, jugoslawische Flugzeuge kreisten über der Stadt. Die Leipziger gerieten beinahe in die Mühlen der turbulenten Weltpolitik. Das stalintreue Albanien unter Diktator Enver Hodscha schoss auf die Flugzeuge Titos, der seinen eigenen Weg zum Sozialismus propagierte.
Der Zwischenfall blieb nicht die einzige Unwägbarkeit auf der abenteuerlichen Reise. Dokumentiert wurde die Fahrt vom damaligen Chemie-Mittelfeldspieler und späteren Journalisten Rainer Baumann, aus dessen Unterlagen viele Episoden und Vorkommnisse überliefert sind. U.a. notierte der junge Baumann: „Es sollte die längste, schwierigste und auch schönste Reise einer DDR-Fußballmannschaft werden.“ Schon die Anreise ein einziges Abenteuer. Nach fünf Tagen an der Sportschule Berlin-Grünau mit Einkleidung, Einweisung und Training ging es per Zug über Prag nach Bukarest in Rumänien, wo festgestellt wurde, dass man das einzige Schiff, das zu jener Zeit auf der Route nach Albanien verkehrte, nicht mehr erreichen würde. Nach einwöchiger Wartezeit in der rumänischen Hauptstadt ging es auf dem Passagierdampfer „Peter der Große“ über Varna und Istanbul über die Ägäis nach Albanien.

Durres heute. Die quirlige Hafenstadt mit ihren 120 000 Einwohnern entwickelt ihren Charme erst auf den zweiten Blick. Im Hafen, wo Chemie damals nach fünftägiger Fahrt mit dem Passagierdampfer „Peter der Große“ ankam, liegen zwei große Fährschiffe, die nach Ancona, Bari und Triest fahren. Container stapeln sich, das typische Treiben herrscht. Statt der Sandstrände, an denen sich die Rose, Busch und Co. tummelten, gibt es nun eine moderne Strandpromenade mit zahllosen Restaurants und Bars. Angeboten werden mediterrane Köstlichkeiten, der Standard ist hoch. Vorbei die Zeiten, als sich die deutschen Spitzenfußballer mit Ölsardinen und Eiern ernähren mussten, weil sie die in reichlich Hammelfett getunkten Speisen nicht vertrugen. Vor allem Trainer Otto Westphal hatte es erwischt; er war nicht nur see-, sondern auch permanent magenkrank ob der ungewohnten Speisen. Auch vier weitere Spieler litten unter Durchfall. Also wurde sich mit Ölsardinen und Eiern ernährt, der gelernte Fleischer und Stürmer Georg Zenker verbrachte viele Stunden in der Küche des Hotels. Dieses wiederum gehörte zum Besten, was der Balkan jener Zeit zu bieten hatte. Das Hotel „Dajti“ in der Hauptstadt Tirana war ausschließlich ausländischen Gästen vorbehalten. Allerdings wurden Hotel und Gäste von der allgegenwärtigen Geheimpolizei Sigurimi überwacht, die Zimmer waren verwanzt und teilweise mit versteckten Kameras ausgestattet.

Drei Wochen logierten die deutschen Gäste hier, wurden zu Empfängen eingeladen, besuchten u.a. eine Kolchose, Ballettvorstellungen im Theater von Tirana sowie – pflichtschuldig – das Partisanenmuseum. Bei einem Empfang der albanischen Militärführung wird die Anweisung erteilt, an den ausgegebenen Gläsern mit Hochprozentigem nur zu nippen und dann die Gläser an die hinteren Reihen weiterzugeben. Dort nimmt sie Masseur Oskar Clauß entgegen, der alsbald schwer angeheitert ist und unauffällig aus dem Saal entfernt werden muss. Ansonsten vertreibt die Zweimann-Kapelle von Chemie mit Nationaltorwart Günter Busch am Klavier und Gerhard Helbig an der Gitarre und am Akkordeon der Mannschaft die Zeit. Sogar im albanischen Rundfunk treten die Fußballer auf.

Im heutigen Tirana befindet sich das ehemalige Hotel Dajti immer noch in der angesagtesten Lage der Stadt. Zwischen Ministerien und dem Sitz des Ministerpräsidenten wird gerade umgebaut. Die albanische Zentralbank kaufte das Gebäude für 30 Millionen Euro und restauriert das Haus. Nicht weit entfernt recken sich moderne Wolkenkratzer in die Höhe, Touristen drängen sich am Skanderberg-Platz, die Einheimischen flanieren und vergnügen sich in den unzähligen Bars und Restaurants. Obwohl das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen lediglich 13580 Dollar (2020) beträgt, geht es den Albanern immer besser (im Jahr 2000 waren es noch 6020 Dollar). Die Arbeitslosenquote sank von 18,05 Prozent im Jahr 2014 auf 10,86 im Jahr 2022. Arm ist das Land noch immer, doch steigende Tourismuszahlen und ein allgemeiner Aufschwung sorgen für Verbesserungen. Auffällig viele große Autos fallen ins Auge, es gibt kaum Bettler. Die Polizei bemüht sich um Präsenz, unser Sicherheitsgefühl ist ausnahmslos unbeeinträchtigt. Wir treffen uns mit einigen Chemikern, die auf Groundhopping-Tour sind und das Tirana-Derby besuchen. Witzig: grün-weiß nach 70 Jahren wieder in der Stadt… Nach einigen Bierchen und Mixdrinks sind wir uns einig: Chemie muss mal wieder hier spielen. Es dürfen nicht wieder 70 Jahre vergehen…


Das damalige Qemal-Stada-Stadion, in dem bis zu 50 000 Zuschauer die Spiele sahen, ist 2016 abgebrochen worden. Wir stehen direkt vor dem neuen Air Albania-Stadion und realisieren es erst gar nicht. Nichts deutet auf ein Stadion hinter dem rot verkleideten Stahl- und Glasmonstrum hin, aus dessen Ecke ein Hochhaus ragt. Erst als wir um die Ecke gehen, stehen wir vor dem historischen Aufgang zur Haupttribüne, das man in den Neubau integriert hat, und erkennen das ganze Ausmaß des Neubaus. Teure Geschäfte, Wohnungen, ein Hotel, Restaurants und ausgedehnte VIP-Bereiche sind hier integriert, wo vor 70 Jahren die Chemiker vor den überlebensgroßen Porträts von Enver Hodscha und Josef Stalin kickten.

Sportlich müssen es 1952 die Meister von Chemie mit der albanischen Elite aufnehmen – und sind überrascht von deren Qualität, aber auch vom überbordenden Ehrgeiz, der sich in übertriebener Härte ausdrückt. Ohne ihre Nationalspieler Scherbaum und Krause tritt Chemie unter den Augen von Herrscher Enver Hodscha gegen eine albanische Stadtauswahl an, die allerdings mit der albanischen Nationalelf identisch ist. Chemie verlor 1:3 und wagte kaum einmal dagegen zu halten. Immer wieder hatte ihnen Delegationsleiter Fritz Gödicke, ein Ex-Spieler und nunmehriger hochrangiger Funktionär, eingetrichtert, dass es um die Freundschaft ginge. Gegen Meister Dynamo Tirana verliert Chemie mit 0:1, beim letzten Spiel gegen die Armeemannschaft Partizan Tirana platzt Routinier Walter Rose, dem Großvater von Bundesligatrainer Marco Rose, die Hutschnur. Als die Albaner wiederholt ungestüm zu Werke gehen, hält er dagegen. Rainer Baumann notiert in seinem Reisebericht: „Rose verschafft sich Respekt und befördert seinen Gegenspieler vom Platz. Sein Kommentar: Jetzt ist Schluss mit der Freundschaft.“ Das Spiel endet trotzdem mit einer 1:3-Niederlage. Ein viertes Spiel lehnen die Leipziger ab, was ihnen den Ärger der Verbandsspitze einbringt, die damit die Ziele der Reise gefährdet sieht.

Nach den Spielen gibt es ein wenig Erholung. Badespaß an der Adria, aber auch ein Ausflug ins Gebirge und in die Industriestadt Elbasan, eine Besichtigung einer Moschee und ein Besuch deutscher Soldatengräber stehen an. Beim Abschlussbankett wird noch einmal richtig aufgetragen von den Gastgebern. Zenker, der wieder in der Küche geholfen hat, warnt seine Kameraden vor dem Verzehr des frischen Salats, denn in ihm versteckt sich eine gewaltige Knoblauchzehe. Chronist Rainer Baumann hat das allerdings nicht mitbekommen. Seine Mitspieler stellen ihm eine Falle, locken ihn mit einer Prämie von 50 Mark, wenn er den ganzen Salat aufessen würde. Der nichtsahnende Baumann willigt ein und legt los, lässt sich auch von dem übergroßen Knoblauch nicht bremsen. Mit tränenden Augen und unter dem Gelächter seiner schadenfrohen Freunde vertilgt er den kompletten Salat. Später wirft ihn Walter Rose aus dem gemeinsamen Zimmer, weil er den beißenden Geruch nicht aushält.

Den Rückweg bestreitet die Delegation mit einem Mitglied mehr: eine Schildkröte geht mit auf Reisen, die dann später dem Leipziger Zoo vermacht wird. Der Esel allerdings, der schon einer Bäuerin abgehandelt wurde, darf auf Anweisung des Kapitäns nicht mit an Bord. Nach sechs Wochen kommt die Mannschaft in Leipzig an. Gerüchte, die über den Rundfunksender RIAS gestreut wurden, besagen, dass einige Spieler in den Westen geflüchtet wären. Zu dieser Zeit kein Einzelfall, täglich verlassen hunderte DDR-Bürger ihr Land. Über 5000 Menschen haben sich deshalb am Leipziger Hauptbahnhof versammelt, um ihre Lieblinge in Empfang zu nehmen. Groß ist die Erleichterung, als die Massen durchzählen und wirklich alle Spieler wieder da sind.
Chemie belegte in diesem Jahr den dritten Tabellenplatz der DDR-Oberliga. Zwei Jahre darauf wird die Mannschaft als amtierender Vizemeister aufgelöst und der Leipziger Fußball neu strukturiert. Erst neun Jahre später läuft wieder ein Team als BSG Chemie auf – und wird sensationell erneut DDR-Meister. Die Leutzscher Legende war geboren…
Rainer Baumann ist am 5.10.2021 verstorben. Nach weiteren Besuchen im Altersheim, u.a. zu seinem 90. Geburtstag am 21. Januar 2020 mit Vorstandsvorsitzenden Frank Kühne, brach Corona aus und verhinderte weitere Besuche. Auch einen Besuch im AKS, den wir vereinbart hatten, konnten wir leider nicht mehr realisieren. „Röhre“ hat uns mit seinen Büchern und den Erinnerungen aber einen riesigen Schatz hinterlassen, dem wir es verdanken, dass die Erinnerungen lebendig bleiben.