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Geflüchtet vor dem Krieg, nun in Chemies Erster dabei

By 6. Juni 2025No Comments

Mit der “Ersten” auf Rasenfeld 1 spielen – für Yehor Chyher ein Traum, der in Erfüllung ging.

von Stefan Schilde

Mit Yehor Chyher hat die Regionalligamannschaft der Chemiker ein neues Gesicht dazubekommen. In Leipzig und bei Chemie hat der Ukrainer eine neue Heimat gefunden.

Yehor Chyher hinkt gerade etwas, als er den Alfred-Kunze-Sportpark betritt. Am Tag zuvor hat er für die Chemie-U23 gespielt, bekam dabei einen Schlag aufs Knie. „Tut ziemlich weh, aber ich hoffe, es geht schnell wieder weg“, sagt er.
Hart sein, Schmerzen ertragen: Diese Tugenden bekam er schon früher in die Wiege gelegt, in der Nachwuchsakademie des ukrainischen Traditionsvereins FK Dnipro. „Die Ausbildung dort war sehr oldschool: Man musste Kämpfen bis zum Umfallen. Taktik stand an zweiter Stelle“, erinnert er sich. „Hauptsache, das eigene Tor gut bewachen.“

Flucht ins sichere Deutschland

Yehor Chyher stammt aus dem ukrainischen Dnipro, schon zu Sowjetzeiten als Zentrum der Rüstungs- und Raumfahrtindustrie bekannt. Heute liegt die „Raketenstadt“ mit ihren knapp eine Million Einwohnern nur 100 Kilometer von der Frontlinie entfernt.

Der russische Angriff auf die Ukraine war für ihn ein Schock. Trotzdem verspürt er keinen Hass auf den Aggressor als Ganzes. Nach kurzem Nachdenken sagt er: „Es gibt den Slogan ,Don’t hate the country – hate the government‘. Ich glaube, das trifft es ganz gut.“

Obwohl seine Familie russisch-ukrainisch gemischt ist, stand beim Einmarsch Russlands für ihn außer Frage, wem seine Loyalität galt. „Ich bin in Dnipro aufgewachsen, fühle mich als Ukrainer. Mit Freunden habe ich mich vorbereitet, was wir tun würden, wenn zu einem Einmarsch in Dnipro kommt und wir die Stadt verteidigen müssen.“ Zum Einmarsch war es nicht gekommen, dafür erlebte Yehor Chyher Bombenhagel und Raketenbeschuss. „Manche Raketen schlugen nur einen Kilometer von unserem Wohnhaus entfernt ein. Das war schon sehr beängstigend.“

Im März 2022 zog die Familie – Vater, Mutter, Bruder und Schwester – die Reißleine, verließ die Heimat, flüchtete nach Deutschland. Yehor war erst 16 Jahre alt. Sie übernachteten für ein paar Tage in einem Hotel in Straubing bei München. Yehor und sein damals 14-jähriger Bruder wurden auf Wohnungssuche geschickt. Ohne Erfolg: „Von zehn Haustüren ging nur eine auf, und das war ein Pole, der auch keinen Platz hatte“, sagt Yehor.

Zum Glück hatte sein Vater noch Kontakt zu einem alten Studienkollegen, einem Ukrainer, der schon jahrzehntelang in Leipzig wohnt. „Er hat uns dabei geholfen, im Haus einer deutsch-ukrainisch-jüdischen Familie unterzukommen.“ Die Chyhers beantragten Asyl, und der Antrag wurde gewährt.

In Leipzig und bei Chemie schnell Anschluss gefunden

So traurig er ist, dass er seiner Heimat den Rücken kehren musste, so gut gefällt es ihm seitdem in Deutschland, auch in Leipzig. „Die Menschen sind sehr nett, auch der Staat. Es gab nie Streit, auch keinen Hass mir oder meiner Familie gegenüber“, sagt Yehor Chyher. Er ging viel nach draußen, auf die Leute zu, knüpfte Kontakte, fand Freunde. „Ich wollte mir hier gleich ein Leben aufbauen, nicht nur irgendwo drinnen bleiben. Das ist mir sehr wichtig.“

Schmunzeln muss er, als er erzählt, wie er bei Chemie gelandet ist. Auf einem Basketball-Platz in Leutzsch kam er ins Gespräch mit seinem Kontrahenten und erzählte, dass seine Leidenschaft eigentlich dem Fußball gilt. Auf Google Maps zeigte ihm der Mitspieler den Alfred-Kunze-Sportpark. Yehor verlor keine Zeit und begab sich in Begleitung seines Vaters zu einem Training. „Was wir nicht wussten: Es war das Training der U19. Eigentlich war ich ja noch B-Jugend-Spieler“, sagt Yehor Chyher. Trainer Cenk Gültas ließ ihn dennoch mittrainieren – und der Blondschopf überzeugte sofort. „Nach dem Training kam Cenk zu mir und sagte: ,Gut so, Junge, wir nehmen dich.‘“

Yehor Chyher in “seiner” Nachwuchskabine. Hier ist er immer noch gern. “Hier hat alles angefangen”, sagt er.

Trainer Cenk half ihm auch bei der Suche nach einer geeigneten Schule. Dort lernte Yehor schnell Deutsch, erreichte B2-Niveau, kann sich seitdem komplex auf Deutsch ausdrücken, versteht längst nicht nur die einfache Fußballersprache auf dem Platz. Und wie man seinen Namen richtig ausspricht? „Ja, das ist ein Thema“, sagt er lachend. „In Russland würde man sagen: Jegor, auf Ukrainisch Jechor, mit einem ,ch‘, das so ähnlich klingt wie bei ,ach‘. Hier werde ich meistens Jegor genannt, das fällt den meisten leichter.“

Danach ging alles ganz schnell. Als das Trainerteam der Ersten Herren um Miroslav Jagatic beschloss, einige U19-Spieler mit Potenzial für Höheres mittrainieren zu lassen, war Yehor darunter. 2023 stieß er zur U23 hinzu. Parallel trainierte er weiter bei der Ersten mit.

Name von der Trainerbank gerufen: „Was geht jetzt ab?“

Im Februar 2025 war es dann so weit: Im Heimspiel gegen Luckenwalde stand sein Name zum ersten Mal auf dem Spielberichtsbogen. Zwar blieb er noch ohne Einsatzminuten. „Aber allein im Kader zu stehen, war unfassbar“, erinnert er sich. Und eine Woche später war es so weit. Im Auswärtsspiel beim BFC Dynamo kam der große Moment. „Wir brachen das Aufwärmen ab, es war schon kurz vor Abpfiff. Plötzlich hörte ich, wie von der Trainerbank mein Name gerufen wurde. Ich dachte: Was geht jetzt ab? Ein absolutes Wow-Gefühl!” Auch wenn es nicht mehr zum Ausgleich gereicht hat: Der 19-Jährige hat Blut geleckt.

Dabei wirkt er für sein Alter schon sehr reflektiert. „Ich weiß schon, dass ich nicht Lamine Yamal bin“, sagt er, „aber ich will ein guter Regionalliga-Spieler werden.“ Als Benchmark nennt er das Heimspiel gegen Rot-Weiß Erfurt. „Das war schon ein sehr hohes Niveau, was Erfurt gespielt hat. Das möchte ich auch erreichen.“

Auch wenn er nichts dagegen hätte, mit dem Fußball sein Geld zu verdienen („jedes Kind, das mit dem Fußballspielen anfängt, träumt davon“), will er sich beruflich gut aufstellen. „Am liebsten möchte ich Sportmanagement an der Uni Leipzig studieren“, erzählt er. Bis dahin will er richtig Gas geben und sich im Training und im Spiel weiter für die Erste empfehlen. „Ich bin David Bergner, Marcus Wolf und Adrian Alipour sehr dankbar, dass sie mir ihr Vertrauen schenken und mir Spielminuten geben“, sagt er.

Und er genießt jede Spielminute, den Applaus von den Rängen nach gewonnenen Zweikämpfen, den ausgelassenen Jubel mit den Fans nach Toren und nach Siegen.
„Chemie ist wie Familie für mich. Man merkt, wie die Leute hier ihren Verein lieben, du kannst die Geschichte regelrecht fühlen.“ Als er aufmerksam der Erzählung von der 1964er Meisterschaft lauscht – davon, wie der „Rest von Leipzig“ allen Widrigkeiten zum Trotz den Titel holte –, wirkt er fast schon ergriffen, noch entschlossener, sich fortan richtig reinzuhauen. „Die Leutzscher Legende? Was für eine Geschichte – damit kann ich mich identifizieren!“

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Transparenzhinweis: In einer vorigen Fassung hieß, Yehor Chyher sei Kapitän der U23 gewesen. Dies trifft nicht zu. Wir haben den Fehler korrigiert.

Dieser Beitrag ist Teil des Mitglieder-Newsletters im Monat Mai 2025, der für Mitglieder bereits am 14.05.2025 erschien.

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