Foto: Franz Engler
Heute ist der 8. März – ein Tag, an dem weltweit die Sichtbarkeit von Frauen und ihr Engagement in den Mittelpunkt rücken. Für uns ist das jedoch kein Thema, das auf einen einzigen Tag im Jahr beschränkt bleibt. Frauen prägen Chemie Leipzig jeden Tag: als langjährige Fans, als neue Gesichter im Stadion, als ehrenamtliche Helferinnen und als treibende Kräfte hinter den Kulissen. Dafür sind wir sehr dankbar!
Chemie Leipzig lebt von einer starken Gemeinschaft, die über Jahrzehnte gewachsen ist – getragen von Leidenschaft, Zusammenhalt – und Offenheit. Im Mittelpunkt steht der Fußball, doch Chemie ist mehr als das: Ein Verein, der sich engagiert, der Raum für alle schafft und in dem sich alle Fans wohlfühlen können. Frauen spielen dabei eine zentrale Rolle und genau das wollen wir sichtbar machen – nicht nur heute, sondern im ganzen Jahr.
Monat für Monat stellen wir deshalb eine Frau vor, die mit ihrer Geschichte zeigt, was Chemie ausmacht.
Beginnen wollen wir mit Heidrun Hofmann, einer Frau, die den Laden maßgeblich zusammenhält.
„Ich weiß nicht, warum. Ich kann es nicht erklären. Aber Chemie ist mein Leben.“
Es ist der 2. März 1974. Die 15-jährige Heidrun steigt am Leutzscher S-Bahnhof aus, folgt der grün-weißen Menschenmenge und betritt zum ersten Mal den Alfred-Kunze-Sportpark. Das Stadion bebt, 22.000 Zuschauer, ein Spiel gegen Aue – es fällt kein Tor, aber das ist egal. „Ich wusste gar nicht, was mich so begeistert hat. Ich habe ja kaum was gesehen, ich war klein und stand weit hinten. Aber ich wollte nur noch eines: wiederkommen.“
Ihr älterer Bruder war schon lange dabei, aber sie musste warten: neun Jahre, bis ihr Vater endlich sagte: „Jetzt darfst du mal fahren.“ Als sie nach Hause kam, war für sie klar: Das war keine einmalige Sache. Von diesem Moment an gehörte Heidrun zu Chemie Leipzig.
Fußball statt Studium in Gotha
Während andere von Kino und Tanzstunden schwärmten, schwärmte Heidrun von Chemie. Die Wochenenden richtete sie sich so ein, dass sie bei jedem Heimspiel dabei sein konnte. Und als ihr Chef ihr nach der Lehre ein Finanzstudium in Gotha vorschlug, war ihre Antwort eindeutig: „Ich gehe nicht nach Gotha. Da kann ich am Wochenende nicht zum Fußball gehen.“ Stattdessen entschied sie sich für ein Fernstudium in Leipzig. Chemie bestimmte ihren Alltag – und nicht umgekehrt.
Doch sie wollte nicht nur dabei sein, sondern mitgestalten. Gemeinsam mit Freunden gründete sie den „Fanclub Delitzsch“. „Wir haben uns alle zwei Wochen getroffen, Sitzungen gehalten, Auswärtsfahrten organisiert. Und natürlich eine Flasche Rosenthaler Kadarka getrunken – der hatte grün-weiße Streifen auf dem Etikett, das passte einfach.“
Ende der 1970er Jahre initiierte der Fanclub Delitzsch erstmals die Wahl zum „Fußballer des Jahres“. Nach zwei Saisons schlief die Tradition aus verschiedenen Gründen ein. Doch als Chemie 2011 in den Alfred-Kunze-Sportpark zurückkehrte, entschloss sich der Fanclub, das Ganze wiederzubeleben – unter dem neuen Namen „Spieler der Saison“. Seit der Saison 2012/13 küren die Fans so wieder ihren besten Spieler des Jahres.
„Geh du mal zu Chemie, ich pass auf die Kinder auf!“
Damals waren Frauen im Stadion eine Seltenheit. „Allein als Frau? Das war schon ungewöhnlich.“ Doch für Heidrun war das kein Thema – bis sie es auswärts spürte. „Da kamen dann Sprüche, Chemie-Schlampen und so.“ Aber aufhören? Niemals.
Auch zu Hause wurde sie hinterfragt. „Mädel, was soll aus dir werden, wenn du immer nur zum Fußball gehst? Du musst mal was lernen, einen Kochtopf haben!“ Doch Heidrun blieb sich treu. „Heute entscheiden Frauen selbst, was sie wollen – und viele wollen eben auch Fußball.“
Das Leben ging weiter, Chemie blieb. Heidrun heiratete, bekam zwei Söhne, die sie nach ihren Lieblingsspielern benannte. Ihr Mann ist kein Fußballfan. „Er hat immer gesagt: Geh du mal, ich pass auf die Kinder auf.“
Nicht alles war leicht mit dem Verein. Der Umzug ins Zentralstadion fühlte sich an wie ein Bruch. „Wir saßen da mit 700 Leuten – das war der Tiefpunkt.“ Sie und ihr Fanclub hielten zusammen. „Wenn wir uns nicht immer getroffen hätten, wären viele von uns nicht mehr gekommen.“
Mannschaftsfoto in ihrem Garten
Mehr als 60 Jahre musste Heidrun alt werden, bevor ein Kindheitstraum in Erfüllung ging: Sie durfte bei Chemie arbeiten. „Ich habe mir immer gesagt: Ich will so sein wie Fräulein Schubert. Die hat hier den Laden geschmissen, Beiträge kassiert, Toilettenpapier besorgt, Spieltage organisiert.“ Jetzt sitzt sie selbst in der Geschäftsstelle, kümmert sich um die Buchhaltung – und liebt es. „Ich war noch nie so gerne auf Arbeit wie hier.“
Für sie ist Chemie mehr als nur ein Verein. Es ist eine Familie. Besonders spürte sie das, als die Ultras dem Fanclub Delitzsch zum 50-jährigen Jubiläum eine Fahne nähten – von Hand. „Das hat mich umgehauen. Die haben sich hingesetzt und uns eine Fahne genäht. Wer macht sowas heute noch?“
Von all den Erlebnissen, die sie mit Chemie Leipzig verbindet, bleibt ein Moment unvergessen: 2014, bevor Chemie aufstieg, versprach Trainer André Schönitz: „Wenn wir es schaffen, machen wir das Mannschaftsfoto bei dir im Garten.“ Heidrun hielt das für einen Scherz – bis sie eines Tages Motorengeräusche hörte. Kurz vor dem letzten Heimspiel rollten Autos durch ihre Siedlung. Die Mannschaft stieg aus, zog sich ihre Trikots über und stellte sich auf ihre Terrasse. „Da stand meine Chemie-Mannschaft in meinem Garten. Ich konnte es kaum glauben. Das war mein schönster Moment.“
Chemie: Familie, ehrlicher Fußball, Leidenschaft
Sie kann nicht verstehen, wenn Leute den Verein vorschnell beurteilen. „Da sagt jemand, Chemie sei chaotisch – und dann frage ich: Wann warst du das letzte Mal hier? Und die Antwort? ‚Gar nicht.‘“ Heidrun schüttelt den Kopf. „Aber Hauptsache eine Meinung haben! Ich sag dann immer: Komm doch erst mal her. Spür die Atmosphäre. Sieh die Leute. Dann reden wir weiter.“
Für Heidrun geht es bei Chemie nicht nur um Fußball, sondern um ein Gefühl, das man selbst erleben muss. „Hier ist es nicht steril, nicht glattgebügelt, sondern echt. Die Leute stehen zusammen, egal, ob alt oder jung, ob sie seit Jahrzehnten dabei sind oder zum ersten Mal im Stadion. Das ist Chemie.“
Auf die Frage, was Chemie für sie bedeutet, muss Heidrun nicht lange überlegen: „Familie, ehrlicher Fußball, Leidenschaft.“ Ehrlicher Fußball, das heißt für sie: „Nicht alles durchkommerzialisiert. Nicht perfekt. Aber mit Herz.“
Und wie lange wird sie noch ins Stadion gehen? Heidrun lacht. „Bis an mein Lebensende. Und wenn mich jemand hinfahren muss – ich bin da.“



