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Forza, Lübeck II! Was die BSG Chemie und die Paralympics in Barcelona vor 30 Jahren miteinander zu tun haben

By 6. März 2022No Comments

Foto: Chemie Leipzig

Anlässlich der in diesen Tagen stattfindenden XIII. Winter-Paralympics, der Olympischen Spiele für Sportler:innen mit Körperbehinderung, präsentieren wir einen Fund aus der chemischen Historien-Schatztruhe. Denn, wem die BSG Chemie Leipzig nur im Herrenfußball als Schrecken aller Klassen bekannt ist, dem entgeht vielleicht eine andere Sportart voller grün-weißer Magie: Rollstuhlbasketball. Über illegale Teilnahmen, Reisekostenerstattungen und Räder im Abseits.

1951 und 1964, klar. Die beiden Zahlen kennt jede Person, die es mit der BSG Chemie Leipzig hält, aus dem Stegreif. Sieht man sich jedoch einmal nach anderen Meistertiteln um, die das Team aus Leutzsch in seiner Vergangenheit erringen konnte, so sind es beim Rollstuhlbasketball deutlich mehr als nur derer zwei.

Unseren Vorstandsvorsitzenden Frank Kühne erreichte vor kurzer Zeit ein Brief. Dieser Brief hatte, aus Markkleeberg abgeschickt, keinen weiten Weg nach Leutzsch vor sich. Doch der Weg durch die Geschichte, der sich anhand der Informationen in diesem Brief nachzeichnen lässt, ist ein interessanter, ein kurioser, ein chemischer. Die Verfasserin des Briefs, Christine Hieke und ihr Mann, Siegfried Hieke, prägten den Sport für körperbehinderte Menschen in der DDR – „Versehrtensport“, wie es derzeit hieß – über Jahrzehnte und gerade ihr Ausscheiden aus dem aktiven Trainingsbetrieb hat ganz viele Anzeichen eines großen „Was wäre, wenn…“.

Denn zu Zeiten der ehemaligen DDR war die BSG Chemie für den Rollstuhlbasketball das, was der FC Bayern heute für den deutschen Herrenfußball ist: Von den 20 DDR- Meisterschaften im Rollstuhlbasketball, die ausgespielt wurden, gingen 16 Titel nach Leipzig-Leutzsch. 16 von 20 – 80 Prozent aller Pokale.

Doch von vorn: Vielleicht ist nicht weitläufig bekannt, dass die ersten Initiativen zum Rollstuhlsport in die unmittelbare Nachkriegszeit fallen und anfänglich wortwörtlich Versehrtensport betrieben wurde. Der Großteil der Spielenden waren Kriegsversehrte (auch professionelle Sportler), die weiterhin einer oder ihrer Sportart nachgehen wollten und diese ihren neuen Bedürfnissen anzupassen gedachten. Vorrangig geschah dies in Kliniken für versehrte Veteranen und gerade in den USA und in Großbritannien verlief diese Entwicklung in dieser Zeit beinahe parallel.

Doch warum ausgerechneten Kliniken für Veteranen? Nun, Die Entstehung des Rollstuhlsports ist untrennbar mit der Entwicklung moderner Behandlungsmethoden für Wirbelsäulenschäden verbunden. Noch Ende der 1940er Jahre überlebten neun von zehn Querschnittsgelähmten in der Regel nicht das erste Jahr nach ihrer Schädigung. Grund hierfür war die medizinische Versorgung der Zeit, die bestehenden Therapiemöglichkeiten und die Tatsache, dass die Folgeschäden und Sekundärschäden einer Querschnittslähmung, beispielsweise Geschwüre oder Entzündungen der inneren Organe, nicht ausreichend behandelt werden konnten. Die Anpassung von Sportarten an die körperlichen Beeinträchtigungen, speziell bei Verletzungen der Wirbelsäule, geht hierbei zu weiten Teilen auf das Konto des deutsch-britischen Neurologen Sir Ludwig Guttmann, eines jüdischen Arztes, der 1939 vor den Nationalsozialisten nach Großbritannien flüchtete. Dort leitete er den Aufbau der ersten Spezialklinik für Wirbelsäulenschäden, zu der Zeit noch mit einem Fokus auf die Verletzungen von rückkehrenden Piloten der Royal Air Force RAF. Als Direktor der Klinik (bis 1967) leistete er wichtige Pionierarbeit in der Entwicklung bis heute gültiger Behandlungsmethoden und war als starker Förderer der sportlichen Betätigung von querschnittsgelähmten Personen aktiv – bis heute gilt er als Begründer der modernen paralympischen Spiele, die 1960 in Rom erstmals ausgetragen wurden.

Was hat das nun alles mit der BSG Chemie zu tun? Nun, der Brief von Frau Hieke aus Markkleeberg bringt einiges Licht in die frühen Tage des Rollstuhlbasketballs in Leipzig: In den 1960er Jahren erfuhren Christine Hieke und ihre Kolleg:innen, ihrerseits an der Orthopädischen Klinik der Universität Leipzig tätig, dass im westlichen Ausland aktiv Rollstuhlsport betrieben wird. Eine Idee, die man aufgreifen wollte, in der Republikhauptstadt Berlin gab es hier beispielsweise schon erste Projekte.

In Absprache mit dem Chef der Orthopädie gelang es ihnen, dass man sich an ausgewählten Wochenenden in einem der Turnsäle der Klinik mit Campingliegen und allem, was dazugehört, einquartieren und dem Rollstuhlsport nachgehen konnte. Hierbei übernahm das Klinikum sogar die Verpflegung mit Essen, Getränken und sauberer Wäsche. Über die gemeinsame Nutzung der Turnsäle durch unterschiedlichste Patient:innen und Sportler:innen entstand der Kontakt zur Vereinsleitung der BSG Chemie Leipzig und man näherte sich an, bis schließlich der Entschluss feststand, Rollstuhlbasketball fortan unter dem Dach der BSG zu betreiben.

Zentral hierfür waren die beiden Personalien Christine Hieke und ihr Mann, Diplom-Pädagoge Siegfried Hieke. Sie fungierte als Gruppenleiterin und Physiotherapeutin, ihr Mann als Cheftrainer der ersten und zweiten Mannschaft der BSG Chemie und dazu ab August 1985 noch als Trainer der DDR-Nationalmannschaft.

16 DDR-Titel gelangen der BSG Chemie unter seiner Leitung, darüber hinaus der Sieg bei einem Internationalen Turnier im Behindertensport in Sofia 1987. Zweimal konnte man sich den gesamtdeutschen Titel sichern.

Apropos gesamtdeutsch: Die Rollstuhlsportler:innen der BSG Chemie Leipzig nahmen an Sportfesten und Turnieren in der Bundesrepublik stets auf eigene Gefahr und illegal teil – die Spielenden reisten privat an, ohne Trainer- oder medizinisches Personal. Der klangvolle Name des Teams? Lübeck II!

Der BSG Chemie liegen Dokumente von der letzten zu Zeiten der DDR ausgetragenen Meisterschaft vor. Die Endrunde der 20. DDR-Meisterschaften im Rollstuhl-Basketball, veranstaltet von Deutschen Verband für Versehrtensport der DDR (DVfV). Mit dem Versprechen von „Tempo, Technik & Erfolg!“ laut Flyer lud man am 4. und 5. Mai 1990 nach Wandlitz und Bernau vor den Toren Berlins. Neben der BSG Chemie traten zwei Mannschaften der BSG Motor Thurm sowie die Vertretung der BSG Medizin Berlin-Buch an, Chemie war hier klarer Titelfavorit und reiste als Titelverteidiger der Saison 1988/89 nach Brandenburg. Gespielt wurde mit vier Mannschaften, die jeweils einmal aufeinander trafen. Zu dieser Zeit stellte man bei der BSG fünf Spieler der A-Nationalmannschaft. Ziel dieser Nationalmannschaft, die im Mai 1990 ein internationales Turnier in Lübeck auf dem Plan hatte, waren eigentlich die Paralympics in Barcelona im Jahr 1992.

Doch diese sollten die Hiekes aus Markkleeberg nicht mehr in aktiven Funktionärspositionen mitbekommen. 1990 beendeten die beiden ihre aktive Vereinsarbeit und Tätigkeit für die BSG Chemie, Siegfried Hieke wurde Direktor der Kurt- Kresse-Oberschule in Markkleeberg-Ost. Die Rollstuhlsportler:innen der BSG Chemie fanden beim SC DHfK eine neue Heimat in der Messestadt.

Die gesamtdeutsche Nationalmannschaft trat bei den Paralympischen Spielen 1992 in Barcelona an und erreichte den dritten Platz. Doch ein Spieler der US-amerikanischen Mannschaft wurde des Dopings überführt, sodass das deutsche Team einen Platz nach oben rückte und mit Silbermedaillen um den Hals die Heimreise antreten konnte. Was wäre, wenn Siegfried Hieke zu diesem Zeitpunkt noch mit dem Geschehen an der Seitenlinie zu tun gehabt hätte? Darüber lässt sich nur spekulieren.

Rollstuhlbasketball ist dem so bezeichneten Fußgängerbasketball fast identisch: Gespielt wird auf einem Standard-Basketballfeld, auch der Korb hängt auf der normalen Höhe von 3,05 Metern. Vier Viertel á zehn Minuten Länge werden gespielt, den Mannschaften stehen fünf Feldspieler:innen und bis zu sieben Auswechselspieler:innen zur Verfügung. Die Shot Clock, nach der maximal 24 Sekunden bis zum Abschluss eines Angriffs erlaubt sind, funktioniert genauso wie die Wertung der Würfe in Zweier und Dreier. Häufig sind die Teams mixed, aus Männern und Frauen gebildet und entlang der Regularien – die körperliche Beeinträchtigung wird mit einem Index zwischen 1 und 4,5 festgelegt, jedes Team darf 14 Punkte insgesamt nicht überschreiten – dürfen auch nicht körperbehinderte Personen mit im Team antreten. Querschnittsgelähmte machen jedoch nach wie vor 80 Prozent der Spielenden im Rollstuhlbasketball aus. Unterschiede auf Regelebene bestehen lediglich gemäß der speziellen Anforderungen von Rollstühlen: Die Seitenlinie des Feldes darf mit keinem Teil des Rollstuhls überschritten werden, ansonsten wird auf Abseits entschieden. Auch Schritte und Doubles, wie man sie vom Basketball kennt, funktionieren nicht exakt gleich: Zweimal darf der eigene Rollstuhl an den Rädern geschoben werden, bevor der Ball wieder gedribbelt werden muss, eine Strafe erfolgt beim dritten Anschieben des Rollstuhls. Darüber hinaus ist es untersagt, den Ball über die Armlehne des eigenen Rollstuhls zu werfen. Der Rollstuhl wird bei Fouls wie ein Teil des Körpers behandelt. Nicht jede Berührung ist ein automatisches Foul, doch nach dem fünften kleineren oder zweiten unsportlichen Vergehen ist ein Spieler ausgefoult und darf für den Rest der Spieldauer nicht mehr teilnehmen. Rollstuhlbasketball ist, analog zur Fußgängervariante, ebenfalls ein „High Scoring Game“, also eine Sportart, bei der häufig einzelne Punkte und hohe Gesamtpunktzahlen erzielt werden, nicht wie beim Fußball. Beispielsweise endete das mehr als ansehnliche Paralympische Finale 2008 mit 72 zu 60 für Australien gegen Kanada. Highlight-Videos einzelner Spiele oder Spielzüge finden sich online in ordentlicher Menge und diese seien jeder sportbegeisterten Person wärmstens ans Herz gelegt!

In insgesamt 14 Teams wurde in der ehemaligen DDR, unter der Schirmherrschaft des DVfV, Rollstuhlbasketball gespielt. Hierzu zählten neben der BSG Chemie in Leipzig auch Mannschaften aus Großzentren Berlin, Dresden, Cottbus oder Erfurt aber beispielsweise auch in Thurm bei Zwickau oder Stavenhagen in Mecklenburg-Vorpommern.

Heute spielen in der deutschen Bundesliga neun Teams aus ganz Deutschland in Hin- und Rückrunde den Meister aus. Zur Zeit sind diese Teams, in der Reihenfolge der aktuellen Tabelle das Thuringia Bulls aus Erfurt, der RSV Lahn-Dill, Hannover United, die Rhine River Rhinos aus Wiesbaden, die Köln 99ers, der BBC Münsterland, die BG Baskets Hamburg, die Doneck Dolphins Trier und die ING Skywheelers aus Frankfurt am Main.

Wir von der BSG Chemie Leipzig bedanken uns beim Ehepaar Hieke aus Markkleeberg für das zur Verfügung gestellte Material, freuen uns auf faire und spannende XIII. Winter-Paralympics und hoffen auf weitere interessante Funde in der Geschichte des Sports für körperbehinderte Menschen bei der BSG Chemie Leipzig!

Kilian Roth

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