Foto: Christian Donner
Nach dem Derby ist vor dem nächsten Traditionsduell – am 19. Spieltag der Regionalliga Nordost begrüßt die BSG Chemie Leipzig mit dem FC Energie Cottbus einen weiteren absoluten Traditionsklub des sowohl ost- wie auch bundesdeutschen Fußballs im Leutzscher Holz. Mit dem FC Energie empfangen die Grün-Weißen ihre Gäste aus der Lausitz zu einer traurigen Premiere in den Leipziger Westen: Zum allerersten Mal wird im Alfred-Kunze-Sportpark ein Punktspiel vor leeren Rängen ausgetragen werden – umso schlimmer, da die Cottbusser der einzige Verein der Regionalliga Nordost sind, welcher im Zuschauerschnitt vor der BSG liegt und demnach den Mannschaften wie den Fans beider Seiten ein toller Fußballnachmittag in Leutzsch vorenthalten bleibt. In der großen Hoffnung darauf, dass das Rückrundenspiel am letzten Spieltag der Saison 2021/2022 unter anderen Vorzeichen steht, freuen wir uns auf das Duell gegen den FC Energie Cottbus am kommenden Samstag, 27. November 2021, um 14:05 Uhr im Alfred-Kunze-Sportpark zu Leutzsch.
In der vom NOFV-Präsidenten so betitelten „Kleinen Champions League des Ostens“ beschert der letzte Spieltag der Hinrunde dem geneigten Fußballfan ein weiteres Mal 90 Minuten geballte Tradition: Die BSG Chemie Leipzig empfängt den FC Energie Cottbus. In einer Premiere der Geschichte von Verein und Stadion wird, der aktuellen Lage der COVID-19-Pandemie geschuldet, ein Punktspiel im Alfred-Kunze-Sportpark vor komplett leeren Rängen stattfinden – was sich auch, außer im Falle einer extrem mirakulösen und plötzlichen Umkehr der aktuellen Dynamik, zumindest im Kalenderjahr 2021 auch leider nicht mehr ändern wird. Weder grün-weißer noch rot-weißer Support kann am Samstag anwesend sein, das im gesamten deutschen und europäischen Fußball umgehende Gespenst der Geisterspiele spukt bereits im Freistaat. Es bleibt lediglich zu hoffen, dass es sich in Leutzsch und anderswo nicht häuslich einrichtet.
Mund abputzen, weitermachen, Trübsal blasen bringt erstens nichts und zweitens keine drei Punkte. Unser kommender Gegner, der im Juli 1990 gegründete FC Energie Cottbus, ist als Nachfolger des 1963 als SC Cottbus gegründeten und ab 1966 im DDR-Fußball als BSG Energie Cottbus angetretenen Vereins das Herz der Region. Dass eine Stadt mit knapp unter 100.000 Einwohnern, beziehungsweise seit 2011 der FC Energie selbst, mit dem Stadion der Freundschaft einen Fußballtempel unterhält, der 22.000 Anhänger:innen Platz bietet, die zu den glorreichsten Zeiten des FC Energie auch problemlos gefüllt (und überfüllt) wurden, spricht Bände. Ohnehin ist Cottbus, gemäß den Zahlen und Fakten des Stadtsportbundes Cottbus, eine Sportstadt durch und durch: In fast 150 Einzelsportvereinen sind in der Stadt Cottbus – wohlgemerkt, einer Stadt mit etwa 98.000 Einwohnern – über 23.900 Mitglieder organisiert.
Ganz generell stellt Cottbus das herausragende Zentrum der Region dar, die Ansiedlung von Industrie in der Stadt sowie der Braunkohletagebau in der Region Niederlausitz ließen die Bevölkerung von etwa 60.000 Menschen im Jahr 1950 auf beinahe 130.000 Menschen zum Zeitpunkt der politischen Wende 1989/1990 anwachsen. Apropos Braunkohle: Das „Energie“ in FC Energie Cottbus stammt vom Trägerbetrieb des Vereins zu Zeiten des Betriebssportgemeinschaftssystems der ehemaligen DDR, dem Kraftwerk Jänschwalde, in weniger als 20 Kilometern sozusagen direkt vor den Toren der Stadt. „Wenn wir nicht arbeiten, geht in Berlin das Licht aus“ war, paraphrasiert, das Motto, welches auch den Stolz und die Identifikation der Menschen in der Region mit dieser Region und ihrer Stadt bis in die 1990er ausmachte. Die Deindustrialisierung in den Nachwendejahren, sinkende Wichtigkeit der Braunkohle, zunehmende Ernüchterung, Perspektivlosigkeit und Deprivation und ein damit einhergehender Bevölkerungsrückgang nahmen die Region schwer mit. Die einzige Konstante? Der FC Energie.
Die 1990er Jahre waren für den FC Energie Cottbus und seine Anhänger:innen die wohl aufregendste Zeit und auch sportlich eines der erfolgreichsten Jahrzehnte, denn vorher ging in der Niederlausitz, salopp gesagt, nicht viel: Dem System der Betriebssportgemeinschaften in der DDR geschuldet, fiel der 1966 gegründeten BSG Energie Cottbus der Schwarze Peter zu – per Parteibeschluss wanderten die besten Talente und Spieler regelmäßig zum allseits beliebten BFC Dynamo ab, bei Neuverpflichtungen stand die in der Konsequenz immer wieder aufs Neue benachteiligte BSG Energie jedoch weit hinten auf der Liste. Fans des ein oder anderen Leipziger Fußballvereins könnte diese Story irgendwie bekannt vorkommen. In der Folge resultierte sage und schreibe viermal nach dem Aufstieg in die DDR-Oberliga der direkte Wiederabstieg, erstmals 1989 konnte überhaupt der Klassenerhalt in der höchsten ostdeutschen Spielklasse gefeiert werden. 1989/1990 konnte man Tabellenplatz sieben belegen und war erstmals als Teilnehmer am UEFA Intertoto Cup beteiligt, darüber hinaus konnte man den zweithöchsten Zuschauerschnitt der letzten Oberligasaison aufweisen – die Folgesaison beendete man allerdings auf dem vorletzten Platz, womit im wiedervereinigten Deutschland die Teilnahme am professionellen Fußball nicht möglich war und man in der Amateuroberliga antreten musste.
Nach der Wiedervereinigung begann der am 1. Juli 1990 gegründete FC Energie Cottbus einen beachtlichen Lauf, der mit „aller guten Dinge sind drei“ vortrefflich beschrieben ist: Von der Saison 1991/1992 bis zum Saisonende 2009 verblieb man jeweils exakt drei Saisons in seiner jeweiligen Liga – und bis zum Abstieg aus der Bundesliga 2003 führte dieser Weg auch stetig nach oben. Unzertrennlich verknüpft mit diesem Erfolg ist die Personalie Eduard „Ede“ Geyer – durch zwei Perioden beim FC Sachsen ja ein alter Bekannter aus Leipzig-Leutzsch –, der zwischen 1994 und 2004 die Geschicke der Mannschaft an der Seitenlinie leitete und diesen furiosen Aufstieg eines durchaus finanzschwachen Vereins vornehmlich mit zu verantworten hatte. Drei Jahre Oberliga, drei Jahre Zweite Bundesliga und ab 2000/2001 drei Jahre in der Ersten Bundesliga setzten Cottbus auf die fußballerische Landkarte und bescherten den Lausitzern auch die Teilnahme am DFB-Pokal 1997, in welchem man sich erst im Finale dem VfB aus Stuttgart nach zwei Toren von Giovane Élber mit 2:0 (1:0) vor 76 400 Zuschauer:innen im Berliner Olympiastadion geschlagen geben musste.
2006 erfolgte zum zweiten Mal der Aufstieg in die höchste deutsche Spielklasse, in welcher man wieder für drei Saisons verweilte, bevor ab der Saison 2009/2010 der langsame Abstieg des FC Energie seinen Anfang nahm: Die Saison 2010/2011 hielt für die Cottbusser, bereits unter der ersten Ägide des heutigen Trainers Claus-Dieter „Pele“ Wollitz, in Person von Nils Petersen mit 25 Treffern die Kanone des Torschützenkönigs der Zweiten Bundesliga und darüber hinaus mit einem 6:0 (2:0) gegen den FC Erzgebirge Aue den höchsten Sieg im deutschen Profifußball parat. Eine löchrige Defensive – 65 geschossenen standen 52 kassierte Tore gegenüber – hatte jedoch zur Folge, dass man die Saison nur auf Platz sechs beendete und weiter zweitklassig blieb. Allerdings kam man im DFB-Pokal erneut sehr weit, Schluss war für die Rot-Weißen erst im Halbfinale, in dem man dem MSV Duisburg mit 1:2 unterlag.
2011/2012 war für die Cottbusser ein Jahr zum Vergessen: Ein Trainerwechsel zur Winterpause, eine schwache Rückrunde, Platz 14 in der Tabelle und ein erst am letzten Spieltag knapp gesicherter Klassenerhalt enttäuschten erneut die Erwartungen von Verein und Umfeld. Auch die anschließenden Jahre waren erneut geprägt von Trainerwechseln – Stephan Schmidt blieb beispielsweise für ganze neun Spieltage im Amt – und endeten im Abstieg in die Dritte Liga zum Ende der Saison 2013/2014, im Jahr darauf war durch Tabellenplatz sieben der Verbleib für ein weiteres Jahr besiegelt. Noch bitterer wurde es 2015/2016, als man nach lediglich neun Siegen in 38 Spielen, davon lediglich drei vor heimischem Publikum, auf Platz 19 den Gang in die Regionalliga Nordost antreten musste. Nur unterbrochen von einem weiteren Jahr in Liga Drei, 2018/2019, spielt der FC Energie seither gemeinsam mit der BSG Chemie Leipzig in der vierthöchsten deutschen Spielklasse.
In der aktuellen Saison hingegen halten die Rot-Weißen ziemlich konstant engen Kontakt zur Tabellenspitze und reisen als Tabellenvierter ins Leutzscher Holz. Von den letzten fünf Spielen des FC Energie konnten drei gewonnen werden, zuletzt gelang am vergangenen Mittwoch im Nachholspiel gegen Lichtenberg 47 ein 4:0-Auswärtssieg, ebenso gelang ein 3:1-Auswärtssieg gegen unseren Stadtrivalen vor gut zwei Wochen. Der Cottbusser Angriff ist derjenige Mannschaftsteil, der unserer BSG Chemie um Trainer Miro Jagatic die meisten Sorgen bereiten dürfte: Die beste Offensive (45 Tore), die beste Tordifferenz (+ 30) und die zweitbeste Defensive (15 Gegentore; nur der Tabellenführer vom Berliner AK ist um ein Tor besser) der Regionalliga Nordost schnüren ein Gesamtpaket, welches die Grün-Weißen vor eine nicht zu unterschätzende Aufgabe stellen dürfte. Besonderes Augenmerk sollte hier auf dem Toptorschützen Maximilian Pronichev liegen, der mit 19 Scorerpunkten (zwölf Tore und sieben Vorlagen) nur in der Liga nur von Christian Beck vom BFC Dynamo auf Platz zwei verdrängt wird. Ebenso muss sich die chemische Verteidigung auf seinen Sturmkollegen Erik Engelhardt einstellen, der mit ebenfalls bärenstarken 18 Scorerpunkten bei zehn Vorlagen gemeinsam mit Theo Ogbidi aus Probstheida die Liste der Topvorbereiter anführt. Man kann sich wahrlich einen angenehmeren Gegner vorstellen, gegen den man seinen Derbyfrust abschütteln möchte.
Ein wenig positiver stimmt hingegen der Herbst, welcher, dank Nachholspielen und Landespokal Brandenburg gefüllt mit vielen Spielen und diversen englischen Wochen, dem FC Energie zuungunsten ein gefülltes Lazarett beschert hat. An dieser Stelle allen rot-weißen und allen grün-weißen Verletzten eine gute Besserung und eine baldige Genesung! Verzichten muss der ewige Pele Wollitz aller Voraussicht nach auf Leistungsträger wie Rechtsaußen Malcolm Badu und Niclas Erblick aus dem zentralen Mittelfeld, ebenso steht der Einsatz von Linksaußen Max Kremer gegen die BSG Chemie aufgrund einer Innenbandverletzung auf der Kippe. Darüber hinaus fehlen den Niederlausitzern die beiden Innenverteidiger Jan Koch (Adduktorenverletzung) sowie Shawn Kauter (Meniskusriss) sowie Mittelfeldmann Joshua Putze aufgrund eines Achillessehnenanrisses. Das Perfide an dieser Liste – all diese Verletzungen ereigneten sich erst seit Oktober 2021. Im chemischen Kader fehlen nach wie vor Max Keßler, Lucas Surek, Andy Wendschuch und Benjamin Boltze, der seit dem Spiel gegen die VSG Altglienicke an einem Handbruch laboriert.
Auf der anderen Seite des leider leeren Alfred-Kunze-Sportparks versucht die BSG Chemie Leipzig, die Enttäuschung aus der unnötigen 0:1-Niederlage im Stadtderby am Südfriedhof hinter sich zu lassen und den Blick nach vorne zu richten. Stichwort vorne: Die Konsequenz in der Offensive dürfte als wichtigste Lektion aus dem Spiel in Probstheida zurückbleiben. „Wenn du die Dinger vorne nicht machst, bekommst sie hinten rein“ merkte unser Trainer Miroslav Jagatic bereits nach dem Spiel im Bruno-Plache-Stadion an und hat damit leider Recht. Die Kreativität der Grün-Weißen, die sich bis ins letzte Drittel beziehungsweise bis zum gegnerischen Strafraum immer und immer wieder Bahn bricht und sehenswerte Situationen kreiert, darf einfach nicht effektiv in solch bedenklicher Harmlosigkeit in der gefährlichen Zone enden. Positives aus dem Derby findet sich allerdings in der großartigen, kämpferischen Aufopferung der Leutzscher, speziell in der gesamten ersten und zu Beginn der zweiten Halbzeit waren die Grün-Weißen drin in den Zweikämpfen und zeigten sich bissig, giftig, chemisch. Speziell Stefan Karau und Philipp Wendt demonstrierten, dass es auch in Zukunft weder Spaß macht noch Spaß machen soll, gegen die Leutzscher Jungs auf dem Platz zu stehen. Einzig unsere Nummer 23, Anton Kanther, wird bei bisher vier gelben Karten, mit einer Gelbsperre am Horizont, im kommenden Spiel ein wenig aufpassen müssen – Eugen Ostrin, der Schiedsrichter der Partie, griff in bisher drei Einsätzen in der Regionalliga Nordost bereits bei 21 Gelegenheiten zum Karton (davon einmal Rot).
Zu guter Letzt ist unser Neuzugang Dennis Mast hervorzuheben, der mit jedem Spiel besser bei der BSG Chemie ankommt, im Derby buchstäblich überall auf dem Platz zu finden war und langsam zeigt, warum die sportliche Führung um Trainer Jagatic den Zweit- und Drittligaroutinier in den Leipziger Westen gelotst hat.
Mit dem FC Energie Cottbus findet sich eine schwere, aber keine unlösbare Aufgabe im AKS ein und die vergangenen (Heim-)Spiele der BSG Chemie Leipzig haben unter Beweis gestellt, welches Potential in dieser Mannschaft steckt und dass man guten Mutes auf das blicken kann, was da in dieser Saison noch so kommen mag.
Zum 19. Spieltag der Regionalliga Nordost tritt die BSG Chemie Leipzig im Heimspiel gegen den FC Energie Cottbus an, wobei das Spiel aufgrund der aktuell im Freistaat Sachsen geltenden Corona-Bestimmungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetragen wird. Für all jene, die es mit der BSG Chemie halten, ergeht wie immer die Empfehlung, die Partie in unserem Live-Ticker oder unserem Fanradio Fünfeck.FM (beides in der Chemie-App zu finden) live zu verfolgen. Darüber hinaus überträgt der Mitteldeutsche Rundfunk im Zuge des Zuschauerausschlusses in Sachsen bis Weihnachten fast alle Heimspiele der sächsischen Regionalligisten im Live-Stream, darunter auch Chemie gegen Energie. Auch Ostsport.tv bietet einen Livestream der Partie an. Das Spiel steht unter der Leitung von Schiedsrichter Eugen Ostrin (FC Eisenach) und seinen Assistenten Chris Rauschenberg und Matthias Lämmchen, Anpfiff ist um 14:05 Uhr im Alfred-Kunze-Sportpark in Leipzig-Leutzsch. Forza BSG!
kiro