Skip to main content
AppnewsVEREIN

„Haltet die Elf von ’51 in Ehren, dass sie unvergessen bleibt!“

By 20. Mai 2021No Comments

Die zweite DDR-Meisterschaft von 1964 istdas identitätsstiftende Merkmal unser Geschichte. Damit unterscheiden wir uns von vielen anderen Vereinen, die in der Regel ihren ersten nationalen Titel besonders herausstellen. Doch warum ist das so? Ist unsere erste Meisterschaft von 1951 weniger wert als die zweite? Wohl kaum. Wagen wir gemeinsam einen Einblick tief in die Chemie-DNA und gehen dem Ganzen auf den Grund.
Wer den Alfred-Kunze-Sportpark betritt, wird unweigerlich mit dem Jahr 1964 konfrontiert. Was es damit auf sich hat, hat sich wahrscheinlich schon herumgesprochen: Die von Alfred Kunze trainierten Chemiker ließen entgegen aller Prognosen alle Kontrahenten hinter sich und sicherten den zweiten DDR-Meistertitel nach Leipzig-Leutzsch. Dabei hatte die Sportobrigkeit eigentlich ganz andere Pläne. Wer sich die Vorgeschichte gern noch mal geben möchte (was wir empfehlen), liest einfach weiter. Wer ohnehin schon einen anstrengenden Tag hatte, überspringt am besten den folgenden Klappentext (was wir nicht empfehlen).

Worüber Julia Scharf damals stolperte

Achtung, jetzt wird’s also kompliziert: Im Zuge von Umstrukturierungen gingen die meisten Spieler der BSG Chemie Leipzig zusammen mit Trainer Kunze ab 1954 als SC Lokomotive Leipzig in der Oberliga an den Start. Das konnte ihnen niemand verdenken, denn die Alternative wäre gewesen, sich dem neugegründeten SC Chemie Halle-Leuna anzuschließen. Bevor wir an dieser Stelle die Hälfte der Leserschaft in tiefe Depressionen stürzen, kurz zur Klarstellung: Mit unserem heutigen blau-gelben Rivalen hatte der SC Lok praktisch nichts zu tun. Damaliger Ortsrivale der Kunze-Schützlinge war stattdessen der SC Rotation Leipzig. Die Kulisse von über 100.000 Besuchern im Ortsderby ‘56 bedeutet bis heute den Zuschauerrekord im gesamtdeutschen Fußball. Auch wenn der SC Lok teilweise im vorderen Drittel mitmischte, sah man doch meist keinen Stich gegen die Konkurrenz im Kampf um den Titel. Rotation spielte sogar regelmäßig gegen den Abstieg. Immerhin konnte „unsere“ Elf 1957 den FDGB-Pokal erringen. Weil das der Leipziger Sportführung aber nicht reichte, wurden 1963 Nägel mit Köpfen gemacht. Durch Fusion des SC Lok – also der alten Chemie-Mannschaft – und dem SC Rotation wurde im Februar ‘63 ein neuer Verein aus der Taufe gehoben: der SC Leipzig. Diesem SC Leipzig sollten sich nach der Saison die besten Spieler beider Vereine anschließen, und so kam es auch. Später entstand durch Herauslösung der Fußballabteilung aus dem SC Leipzig übrigens der heutige 1. FC Lok Leipzig. An dieser Stelle einen lieben Gruß an ARD-Moderatorin Julia Scharf, die im Nachgang der DFB-Pokalauslosung 2018 für ihre Äußerung „[Chemie ist] unter anderem aus Lok Leipzig hervorgegangen“ böse durch die Manege geschleift wurde. Mal ehrlich: längst verziehen.

Leutzscher Legende damals, Leutzscher Legende heute

Nachdem das geklärt wäre, begrüßen wir die Fraktion „Mut zur Lücke“ zurück, die den Rückblick übersprungen hat. Chemie ging ab 1963 jedenfalls wieder unter dem alten Namen BSG Chemie Leipzig im Leutzscher Georg-Schwarz-Sportpark an den Start. Ende gut, alles gut? Von wegen: Der Kader bestand von dort an aus „nicht-förderungswürdigen Spielern“, denn die vermeintlich besten waren ja zum SC Leipzig delegiert worden, der im Bruno-Plache-Stadion seine Heimspiele bestritt und – so war zumindest der Plan – fortan die Leipziger Fußballerehre wiederherstellen sollte. Dieser Vorgang stieß beim Leipziger Publikum nicht nur auf Begeisterung. Im Gegenteil: Viele reagierten empört auf diesen abermaligen Eingriff der Sportpolitik ins Geschehen und entwickelten nun erst recht Sympathien für die Chemiker, den „Rest von Leipzig“. Nun passierte wahrlich Wunderbares, denn die Mannschaft unter Trainervater Kunze schien aus dem als ungerecht empfundenen Entscheid eine neue Kraft zu entwickeln. Zwar sprach im Frühjahr ‘64 nach 14 Spieltagen und fünf Spielen in Folge ohne Sieg nicht allzu viel dafür, aber die Grün-Weißen berappelten sich und mussten bis Saisonende nur noch eine Partie verloren geben. Mit einem 2:0-Erfolg am letzten Spieltag bei Turbine Erfurt machte die BSG vor über 10.000 mitgereisten Chemie-Fans alles klar. Die „Leutzscher Legende“ war geboren. Dem Fußballmärchen wohnten bei den Heimspielen im Schnitt über 20.000 Zuschauer bei – Chemie war also nicht nur Meister, sondern auch Liebling der Massen.

Angesichts dieser Vorgeschichte erscheint klar, warum speziell die 1964er-Meisterschaft als das alles überragende Ereignis der Leutzscher Fußballhistorie erscheint. Weil bis auf den FDGB-Pokalsieg 1966 weitere große Erfolge im Sinne von Titeln ausgeblieben sind, war die zweite Meistersaison quasi der Ursprung des Status unserer Chemiker als Underdog. Im Großen und Ganzen ist es dabei geblieben. Der 1. FC Lok spielte erst im Europapokal und nach der Wiedervereinigung als VfB in der 1. Bundesliga um Glanz und Gloria, allerdings ohne den ganz durchschlagenden Erfolg. Doch bei aller Anerkennung für die sportlichen Leistungen der Blau-Gelben bzw. Blau-Weißen schlugen die meisten Leipziger Herzen weiterhin für Grün-Weiß.

Zurück in die Gegenwart. Auch heute sind die (finanziellen) Mittel unserer BSG Chemie Leipzig bekanntlich begrenzt. Im Gegensatz zu vielen anderen Regionalligaklubs trainiert das Team von Miroslav Jagatic nicht unter Vollprofibedingungen. 2008 haben wir in der untersten Liga den Spielbetrieb wiederaufgenommen – ein damals umstrittener Schritt, der sich allerspätestens in der Rückbetrachtung jedoch als richtig erwiesen haben sollte. Gut 13 Jahre später beenden wir die leider coronabedingt abgebrochene Spielzeit als Tabellendritter, vor einigen großen Namen aus alten DDR-Oberligazeiten. Seien wir nicht vermessen: Was 1964 geschah, war und bleibt einmalig, unerreichbar. Doch ein ganz klein wenig „Leutzscher Legende“ ist es auch, was wir heute leben.

Und dennoch: ein Hoch auf die „‘51er“!

Aber was ist nun mit der Meisterschaft von 1951, die wir in dieser Woche zum 70-jährigen Jubiläum gemeinsam feiern? Diese stand bisher immer im Schatten der ‘64er-Helden, dabei wird wohl niemand ernsthaft behaupten, dass die Leistung der damaligen Chemie-Elf unter Trainer Fritz Krause weniger hoch einzuschätzen wäre als die ihrer Nachfolger. Noch in der Vorsaison 1949/50 hatten die Leutzscher lediglich Platz acht belegt. Und trotz einiger Verstärkungen und einem Traumstart (acht Siege und ein Unentschieden aus den ersten neun Begegnungen) sprach lange Zeit wenig für die BSG. Doch ähnlich wie später die ‘64er-Elf fand sie im letzten Saisondrittel zu alter Stärke zurück und teilte sich nach dem letzten Spieltag mit der punktgleichen BSG Turbine Erfurt den ersten Platz. Die Tordifferenz spielte damals noch keine Rolle, zum Glück, denn Chemie hätte gegenüber Erfurt hier deutlich das Nachsehen gehabt. Ein Entscheidungsspiel auf neutralem Boden musste her. Das Chemnitzer Ernst-Thälmann-Stadion platzte mit 60.000 Zuschauern aus allen Nähten und wurde schließlich Zeuge der ersten nationalen Meisterschaft im und für den Leutzscher Fußball.

Ähnlich wie in der zweiten Meistersaison konnten die damals weinrot gekleideten Chemiker auf große Unterstützung von den Rängen zählen. Im Schnitt 22.647 (!) Fans waren bei den Heimspielen zugegen, von denen einige wegen des enormen Andrangs im Probstheidaer Plache-Stadion ausgetragen werden mussten. Jeweils ein Spiel fand wegen vorangegangenen Ausschreitungen sogar in Chemnitz und in Borna statt, was tausende Schlachtenbummler nicht davon abhielt, dem Fünfeck, das damals noch eine Raute war, hinterherzureisen. Die Behauptung liegt also keineswegs fern, dass eine der wesentlichen Grundlagen für spätere Erfolge unserer BSG – die Identifikation und der enorme Zuspruch des Anhangs, der die Spieler zu Höchstleistungen antreibt – in hohem Maße den Meisterhelden von 1951 verdanken ist.

Was können wir nun tun, um auch die Meister von 1951 in Ehren zu halten? Ganz einfach: Denken wir gemeinsam an sie, wenn wir wieder einmal fröhlich aufs Meisterjahr ’64 anstoßen. Denken wir nicht nur an ‘64er-Torjäger Bernd Bauchspieß (13 Tore), sondern auch an ‘51er-Torjäger Rudolf Krause (14 Tore); nicht nur an Dauerbrenner Dieter Scherbarth (alle 26 Saisonspiele absolviert), sondern auch an Dauerbrenner Horst Scherbaum (alle 35); nicht nur an Torhüter Klaus Günther (0,81 Gegentore pro Spiel Liga-Bestwert), sondern auch an Torhüter Günter Busch (0,97 pro Spiel, ebenfalls Bestwert). Denken wir an alle Chemie-Helden von ‘51, die ebenfalls Großes geleistet und auch 70 Jahre später noch immer einen Platz in unseren Herzen verdient haben.

Auf euch, Chemiker!

Teilen:
Close Menu