Foto: Kevin Colditz
„Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“. Selten enthält die alte Herberger-Floskel mehr Wahrheit als in der englischen Woche. Nach dem Heimremis gegen die Hertha-U23 erwartet die BSG Chemie Leipzig morgen mit dem SV Lichtenberg 47 die nächste Herausforderung. Für die Grün-Weißen ist es bereits der vierte Gegner aus der Bundeshauptstadt. Anstoß in der HOWOGE-Arena „Hans Zoschke“ ist 17:30 Uhr.
Auch wenn er nicht zu den ganz großen Adressen im DDR-Fußball gezählt haben mochte, gehört unser morgige Gastgeber gleich in mehrfacher Hinsicht zu den Geheimtipps der Regionalliga. Schon der Stadionname lädt zur Recherche ein. So erhielt das Hans-Zoschke-Stadion, traditionelle Heimstätte der Lichtenberger, im Oktober 2009 gegen Sponsoringleistungen den Namen einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft. Originell: Der eigentliche Namensgeber, der von den Nazis 1944 hingerichtete Widerstandskämpfer Hans Zoschke, gerät dank des Namenszusatzes nicht in Vergessenheit. Ähnlich wie unser Alfred-Kunze-Sportpark wurde die Kapazität der 1952 eröffneten Sportstätte nach dem Mauerfall deutlich reduziert, von 18.000 auf 9900. Die Errichtung einer Flutlichtanlage ist geplant. Und noch eine Gemeinsamkeit mit dem AKS: Das „Zoschke“ ist ein reines Fußballstadion, ohne Laufbahn – in ostdeutschen Gefilden bekanntlich eher eine Seltenheit.
Der SV Lichtenberg 47 selbst hat seine Wurzeln im Jahr 1923 und spielte 1950/51 sogar in der DDR-Oberliga. Hier begegneten sie als SG Lichtenberg 47 auch unseren Chemikern, die sich mit 4:0 vor 15.000 Zuschauern im Georg-Schwarz-Sportpark und mit 2:3 vor 8000 Zuschauern im Zoschke-Stadion zweimal durchsetzen konnten. Am Ende holten die Fünfeck-Träger die erste Meisterschaft nach Leutzsch. Bis zur Wende hatten die vornehmlich in Rot gekleideten Ostberliner gegen die starke lokale Konkurrenz BFC Dynamo und Union Berlin keine echte Chance, als Fahrstuhlmannschaft spielte man meist Bezirksliga (3. Liga) und DDR-Liga (2. Liga).
Auch nach 1990 sorgte der SV Lichtenberg vor allem auf lokaler sportlicher Ebene für Schlagzeilen. Dies sollte sich spätestens 2019 ändern, als die 47er vor 1452 Zuschauern (Nachwenderekord!) im Zoschke-Stadion gegen Verfolger Tennis Borussia erstmalig den Aufstieg in die Regionalliga perfekt machen konnten. In ihrer ersten Spielzeit in Deutschlands vierthöchster Spielklasse wusste sich die Elf von Trainerduo Uwe Lehmann und Sven Gruel gegen einige Schwergewichte der ostdeutschen Fußballlandschaft gleich mal sehr ordentlich zu behaupten, schlug Mannschaften wie den Berliner AK, Wacker Nordhausen oder Hertha II und belegte vor dem vorzeitigen Saisonende direkt vor unseren Chemikern einen stabilen Platz 11 in der Quotiententabelle. Das Hinrundenspiel zwischen beiden Vereinen hatte Chemie zu Hause mit 2:0 gewonnen.
Nach der für alle Beteiligten problematischen Corona-Pause setzte der SVL zu Saisonbeginn beim als Spitzenteam gehandelten Energie Cottbus gleich mal eine echte Duftmarke, drehte den 1:0-Rückstand kurz vor Schluss noch in einen 1:2-Auswärtssieg. Gegen die ebenfalls zum Favoritenkreis zählende VSG Altglienicke (2:4) setzte es danach jedoch ebenso eine Niederlage wie beim alten Oberligarivalen TeBe (0:2), gegen den sich auch die beiden Platzverweise gegen Christian Gawe (Rot) und Oliver Hofmann (Gelb-Rot) aus der Vorwoche negativ bemerkbar machten. So steht vorerst der 16. Tabellenplatz zu Buche, nach gerade einmal drei Spieltagen freilich nicht mehr als eine bloße Momentaufnahme.
Mit ihren spielerischen und mentalen Stärken haben die Lichtenberger aber auch in dieser Saison gute Chancen, die Klasse erneut zu halten. Als kleiner Nachteil könnte sich hingegen die relative Unerfahrenheit der gesund jungen Truppe (Durchschnittsalter 25,1 Jahre) im höherklassigen Fußball erweisen: Nur neun Akteure aus dem 26-Mann-Kader haben 40 oder mehr Regionalligaeinsätze auf dem Buckel, die meisten Rückenhaare haben diesbezüglich die Innenverteidiger David Hollwitz (31 Jahre, 154 RL-Spiele) und Jonas Schmidt (27 J., 96x RL), Rechtsverteidiger Oliver Hofmann (28 J., 138x RL) sowie Mittelfeldmann Nils Fiegen (26 J., 102x RL). Dass vergleichsweise geringe Viertligaerfahrung jedoch keineswegs mangelnde fußballerische Qualität bedeuten muss, zeigt beispielsweise der 31-jährige Mittelstürmer Sebastian Reiniger, der in seiner Premierensaison in der Regionalliga 2019/20 gleich siebenmal traf und damit Toptorjäger der 47er war.
Chemie-Trainer Miroslav Jagatic hat ohnehin mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Seine Mannen müssen es von der Arbeit rechtzeitig in den Bus und dieser es anschließend pünktlich zum Spiel nach Berlin-Lichtenberg schaffen. Dort erwartet unser Coach „ein kampfbetontes Spiel mit einem galligen Gegner, vor dem wir auf jeden Fall Respekt haben“. Einstellen wird er seine Elf besonders auch auf Standard- sowie schnelle Umschaltsituationen, „bei denen wir auf der Hut sein müssen“, so Jagatic, der sehr zufrieden mit dem Auftreten seiner Schützlinge vom Samstag ist, als diese nach dem Rückstand ein mehr als 30-minütiges Dauerpressing aufzogen, das letztlich von Erfolg gekrönt war, aber auch Kraft gekostet habe. Deshalb sei von entscheidender Bedeutung, nach der Anreise „sofort den Schalter umzulegen und von Anfang an hochkonzentriert ins Spiel zu gehen“.
Dabei wird er nicht nur auf Benjamin Boltze (Trommelfellriss), sondern auch auf Tomáš Petráček verzichten müssen, der sich im Training verletzte und morgen definitiv nicht zur Verfügung stehen wird. Gute Besserung an dieser Stelle! Ebenfalls noch nicht mit von der Partie sind Benjamin Schmidt und Pascal Pannier, die noch nicht wieder auf 100 Prozent sind. Dafür kehrt Alexander Bury nach abgesessener Rot-Sperre wieder in den Kader zurück. Ein weiterer nicht unwesentlicher Akteur ohne Teilnahmeberechtigung ist dagegen der zwölfte Mann, die Chemie-Fans, denen Trainer Jagatic für die große Unterstützung gegen Hertha „noch mal ein großes Dankeschön“ ausspricht. Die Begegnung ist ausverkauft, die Tageskassen bleiben geschlossen. Der MDR überträgt die Partie, die unter der Leitung von Schiedsrichter Daniel Köppen (Rathenow) sowie seinen Assistenten Tobias Hagemann und Andy Stolz steht („Gut Pfiff!“), ab 17:30 Uhr im Livestream.
Drücken wir unserer Chemie-Elf umso fester die Daumen.
Forza BSG!