Nach einer dreiwöchigen Vorbereitungsphase geht es am morgigen Sonntag für die Kicker der BSG Chemie Leipzig schon wieder los. Die Zeit war dementsprechend knapp, der Plan mit einer Unmenge von Trainingseinheiten sowie drei Testspielen und einem Hallenturnier extrem eng gestrickt – doch trotzdem fühlen sich die Leutzscher gut gerüstet das Kapitel Regionalliga 2020 in Angriff zu nehmen. Mit 20 Punkten hat die Mannschaft von Trainer Miroslav Jagatic das alte Jahr als Neuling sehr gut abgeschlossen, zumal man immer wieder bedenken muss, dass die Grün-Weißen eine der wenigen Mannschaften sind, die in der 4. Liga unter Amateur-Bedingungen arbeiten. Die Grundlage für eine positive zweite Halbserie wurde damit gelegt, doch ist man sich im Leutzscher Lager im Klaren, dass es einer ähnlichen Rückrunde bedarf. Natürlich können die derzeitigen Vorkommnisse in Nordhausen und Erfurt den Verlauf bis Sommer entscheidend beeinflussen, doch sind dies bis zum heutigen Tag nicht mehr als ungelegte Eier. Die Mannschaft tut gut daran, sämtliche Beweggründe zum Verbleib in der Regionalliga auf dem Platz auszufechten – das Ziel Klassenerhalt möchte man definitiv sportlich erreichen.
Dazu ist noch einmal eine ähnliche Punkteausbeute wie bis zum Jahresende von Nöten. In der 3. Liga haben sowohl der FC Carl Zeiss Jena als auch der Chemnitzer FC noch große Abstiegsängste, der Regionalliga-Staffelsieger muss zudem eine Relegation mit Hin- und Rückrunde gegen den Meister der Regionalliga West austragen, um das Aufstiegsrecht wahrzunehmen. Durch diese hohe Anzahl von Ungereimtheiten und Eventualitäten könnten insgesamt vier Mannschaften in der Staffel absteigen. 40 Punkte müssten eigentlich reichen, um alle bevorstehenden Szenarien auszuschließen – die Hälfte haben die Chemiker bisher eingefahren. Ziel ist es, bereits am morgigen Tag weiter auf dem Punktekonto anzuschreiben. Allerdings haben die Leutzscher vor heimischer Kulisse eine äußerst komplizierte Aufgabe zu lösen, wenn der DDR-Rekordmeister Berliner FC Dynamo um 13.30 Uhr zum Nachholspiel im Alfred-Kunze-Sportpark antritt. Trotzdem gehen die Chemiker optimistisch in diese Begegnung und möchten dem Favoriten aus Berlin einen offenen Kampf liefern.
Was wurde in der Vergangenheit alles über den BFC Dynamo geschrieben – Fakt ist, dass die Berliner nach der Wiedervereinigung den Sprung ins große deutsche Fußballgeschäft niemals geschafft haben. Ihre große Zeit hatten die Weinroten in den 80er Jahren, als der Verein zwischen 1979 und 1988 zehnmal in Serie die Meisterschaft der Oberliga erringen konnten. International gelang dem DDR-Rekordmeister jedoch nie der große Wurf – im damaligen Europapokal der Landesmeister kam man maximal bis ins Viertelfinale (1980 Endstation gegen Nottingham Forest, 1984 Ausscheiden gegen den AS Rom). Einzig im Europapokal der Pokalsieger sorgte man 1972 für Aufsehen, als man im Halbfinale gegen Dynamo Moskau erst im Elfmeterschießen unterlag und somit der Sprung ins Endspiel gegen die Glasgow Rangers verwehrt blieb.
Die DDR-Oberliga diktierte man in den 80er Jahren allerdings nach Belieben, Akteure wie Andreas Thom, Frank Rohde oder Thomas Doll sollten später nach der Öffnung der Grenzen in der Bundesliga sofort Fuß fassen. Allerdings konnte der BFC die Abgänge der DDR-Nationalspieler im Anschluss nicht kompensieren, so dass dem Verein in den 90er Jahren der Sprung in den bezahlten Fußball verwehrt blieb. Hinzu kam, dass die Berliner fortan Teile der Infrastruktur, sowie die finanzielle und personelle Unterstützung aus der Politik einbüßten, so dass man jahrelang zwischen Regionalliga und Amateur-Oberliga wechselte.
So kam die Insolvenz im Jahr 2001 nicht von ungefähr, was den Absturz in den Berliner Fußballverband zur Folge hatte. Das Insolvenzverfahren hatte man im November 2004 erfolgreich überstanden, nach Ablauf der Saison 2003/04 schaffte man den Wiederaufstieg in die Amateur-Oberliga. Es folgten in dieser Spielklasse einige Jahre der Konsolidierung, ehe in der Saison 2013/14 der große Wurf gelang. Bereits neun Spieltage vor Saisonende hatte der BFC satte 25 Punkte Vorsprung vor der Konkurrenz und kurz darauf konnte der Wiederaufstieg in die Regionalliga verwirklicht werden. Seit 2014 spielen die Berliner nun wieder auf dieser Spielebene, doch sind die Ziele der Weinroten durchaus höher. In naher Zukunft möchte man an das Tor zur 3. Liga anklopfen, doch ist man sich in der Hauptstadt darüber im Klaren, dass auch in wirtschaftlicher Hinsicht diesbezüglich alles passen muss. So hat der BFC in dieser Saison mit einer blutjungen Mannschaft die Regionalliga in Angriff genommen, welche sich im Verlauf der Hinrunde mehr und mehr entwickelt hat. Nach dem Abgang von Trainer Matthias Maucksch (Fürstenwalde) präsentierten die Verantwortlichen mit Christian Benbennek einen neuen Mann an der Seitenlinie, der in seiner Karriere schon einige Stationen (Babelsberg, Havelse, Aachen, Fürth II) auf dem Buckel hat. In Österreich trainierte der 48-jährige gebürtige Soltauer sogar einmal in der höchsten Spielklasse, als er in der Saison 2016/17 den SV Ried in der Tipico Bundesliga coachte. Benbennek hat den Ruf mit jungen Spielern sehr gut umgehen zu können, was im Verlauf der Hinrunde zu sehen war.
Mit dem ehemaligen Leutzscher Ronny Garbuschewski, als Benbenneks verlängertem Arm auf dem Feld, holte der BFC aus den letzten sechs Spielen satte 16 Zähler und hat sich durch diesen Zwischenspurt mit 31 Punkten aktuell auf Tabellenplatz fünf eingenistet. Nach einem Top-Saisonstart mit maximaler Punktzahl aus den ersten drei Spielen folgte zwar eine Phase mit sieben sieglosen Partien (darunter eine 0:6-Niederlage in Cottbus), doch blieb Benbennek immer ruhig, was sich im Nachgang als absolut richtig erweisen sollte. Mit der angesprochenen Erfolgsserie verstanden es die Berliner sich aus der unteren Tabellenregion rechtzeitig zu entfernen, wobei man diesen Schwung natürlich auch mit in die Rückrunde nehmen möchte. Dabei besticht vor allem die Heimstärke der Weinroten – in den neun Begegnungen im heimischen Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark holte man immerhin 20 Zähler. Einzig in der Partie gegen Hertha BSC II zog man vor heimischer Kulisse mit 1:3 den Kürzeren. Neben einer starken Defensive (wie die BSG Chemie erst 21 Gegentore/zweitbester Ligawert) ist die mannschaftliche Geschlossenheit eines der Erfolgsgeheimnisse des BFC. Weiterhin ist die Last in der Offensive auf mehrere Schultern verteilt, neben dem bereits angesprochenen Garbuschewski (5 Saisontore) haben Andor Bolyki (6) sowie Mateusz Lewandowski und Lucas Brumme (jeweils 4) bisher am meisten getroffen. Auf Brumme, einer der Aktivposten in den vergangenen Spielen, wird Coach Benbennek aufgrund eines Kreuzbandrisses allerdings nicht zurückgreifen können.
Die Leutzscher haben nicht das geringste Problem, diese Partie als Außenseiter anzugehen. In der Vergangenheit ist man mit dieser Rolle blendend zurechtgekommen, zumal die Tabellenkonstellation etwas anderes gar nicht zulässt. Nach dem viertägigen Trainingslager im thüringischen Teistungen, wo man sensationelle Bedingungen vorfinden konnte, hat sich die Mannschaft seit Dienstag in Leipzig sehr gewissenhaft und fokussiert auf den Gegner vorbereitet. Natürlich haben die klimatischen Bedingungen, bei einem gefrorenen Trainingsplatz, die Vorbereitung etwas erschwert, doch zog die Truppe in dieser letzten Vorbereitungswoche klasse mit, so dass man gut gerüstet dieses Nachholspiel angehen kann. Speziell im Trainingslager ist die Mannschaft noch mehr zusammengewachsen – gemeinsam hat man sich zu einhundertzehn Prozent auf das Ziel Klassenerhalt eingeschworen. Trainer Miroslav Jagatic ist sich mit seiner Elf natürlich darüber im Klaren, dass auch im Jahr 2020 der eine oder andere Rückschlag kommen wird, doch wäre er blauäugig, dies nicht im Vorfeld einzuplanen. Die Mannschaft hat bereits 2019 eindrucksvoll bewiesen, zu welch Leistungen sie imstande ist.
Natürlich ist es schwer, dies Woche für Woche abzurufen, doch wie die Truppe dies im alten Jahr gemeistert hat, verdient absoluten Respekt. Nun gilt es gegen den BFC Dynamo ordentlich ins neue Jahr zu kommen, denn bereits die zwei kommenden Aufgaben in Babelsberg und daheim gegen Bischofswerda sind für die Chemiker eminent wichtige Spiele. Für die Grün-Weißen ist es vielleicht auch ganz gut, erst jetzt auf den BFC zu treffen, dem die Winterpause die Fortsetzung seiner positiven Serie erstmal ein Ende setzte. Nun müssen die Hauptstädter auch erst einmal wieder neuen Schwung holen und schauen, wo man eigentlich steht.
Weiterhin werden die Platzverhältnisse mit Sicherheit kein Nachteil für die BSG darstellen. Der Untergrund wird, wie aktuell überall, nicht der beste sein. Für eine technisch beschlagene Mannschaft wie den BFC kann dies schon das eine oder andere Problem bedeuten. Für die Chemiker wird es erneut grundlegend darauf ankommen, defensiv eine enorme Stabilität an den Tag zu legen und keinem Zweikampf aus dem Weg zu gehen. Der Funke von den Rängen muss sofort auf die Spieler herüberspringen, von Beginn an müssen die Grün-Weißen hellwach diese Partie angehen. Allerdings werden auch offensive Qualitäten mit Überraschungsmomenten und Spielwitz von Nöten sein, ohne jedoch die defensive Kompaktheit zu verlieren. Auch Torabschlüsse werden gefragt sein, bei diesen Platzverhältnissen ist alles möglich. BSG-Coach Jagatic, aufgrund seiner Vergangenheit und seines Wohnorts natürlich ein „Berlin-Experte“, hat sich den BFC zuletzt öfters angesehen und wird seine Elf dementsprechend mit reichlich Input versorgen und bestmöglich vorbereiten.
Personell gibt es noch das eine oder andere Fragezeichen, was sich allerdings erst kurz vor dem Anpfiff beantworten lässt. Die langzeitverletzten Marc Böttger und Philipp Wendt haben bereits vor dem Trainingslager die Übungseinheiten wieder aufgenommen und sind auf einem guten Weg. Inwiefern sie zum Kader gehören, entscheidet sich genauso kurzfristig, wie bei Tomáš Petráček, der sich Ende November beim Auswärtsspiel beim Berliner AK am Knie verletzte. Auch der tschechische Angreifer befindet sich im Mannschaftstraining, doch auch hier entscheidet das Trainergespann kurzfristig. Definitiv fehlen wird Raffael Cvijetkovic, der sich im ersten Testspiel in Delitzsch einen Muskelfaserriss zuzog. Ansonsten steht der restliche Kader zur Verfügung, wobei – wie bereits erwähnt – erst am Spieltag über die Zusammenstellung entschieden wird.
Geleitet wird das Nachholspiel von Chris Rauschenberg aus dem thüringischen Wenigenlupnitz. Mit dem 27-jährigen hatten die Leutzscher in dieser Saison bereits zweimal das Vergnügen – mit unterschiedlichen Erfolgserlebnissen. Zunächst pfiff Rauschenberg das Heimspiel gegen Union Fürstenwalde, als die BSG beim 1:4 klar die Grenzen aufgezeigt bekam. In Rathenow konnte man jedoch das wichtige Auswärtsspiel unter der Leitung des Thüringers mit 1:0 gewinnen. Rauschenberg wird an den Linien assistiert von dem erfahrenen Regionalliga-Referee Michael Wilske (Bretleben) und Eric Dominic Weisbach (Leuna). Wünschen wir dem Unparteiischen-Trio ein glückliches Händchen und ebenfalls ein gutes Spiel.
Tom Rietzschel