Die riesengroße Überraschung ist perfekt – Chemie Leipzig hat am Sonntagnachmittag ein dickes, fettes Ausrufezeichen in der Regionalliga gesetzt. Als Schiedsrichter Steven Greif aus dem thüringischen Westhausen um 14:55 Uhr das Derby gegen den 1. FC Lokomotive Leipzig nach einer vierminütigen Nachspielzeit abpfeift, liegen sich sowohl die Spieler als auch die Leutzscher Fans freudestrahlend in den Armen. Soeben hat die Mannschaft von Trainer Miroslav Jagatic das brisante und emotionale Stadtderby gegen den Nachbarn aus Probstheida mit 2:0 (1:0) siegreich gestaltet – das, was nur die kühnsten Optimisten zu träumen wagten, trat am Sonntag im traditionsreichen Alfred- Kunze-Sportpark ein.
Nach Abpfiff herrschte im Stadion eine einmalige Gänsehaut-Atmosphäre – fast eine halbe Stunde lang wurde die Mannschaft auf dem Platz von den Fans ausgiebig gefeiert. Nach der mit Abstand besten Saisonleistung hatte sich die Truppe diese stehenden Ovationen auch mehr als verdient. So diffizil es aufgrund der Tabellen-Konstellation klingen mag – am Leutzscher Sieg gab es insgesamt nicht das Geringste zu rütteln! Die Grün-Weißen gewannen dieses Leipziger Derby völlig verdient und fügten den Probstheidaern damit ihre allererste Saisonniederlage zu. Nachdem der damalige FC Sachsen Leipzig zuletzt am 25. April 2011 in der Oberliga ein Derby gegen die Blau-Gelben gewinnen konnte (2:0), endete hiermit die ellenlange Durststrecke der Leutzscher. In den vergangenen vier Duellen waren die Chemiker zwar jedes Mal nah dran, doch das einzige Mal, als man etwas Zählbares mitnehmen konnte, war der Regionalliga-Punkt beim torlosen Unentschieden im Bruno-Plache-Stadion (22. November 2017). Demzufolge fühlt sich dieser Heimsieg gegen den Stadtrivalen richtig gut an, zum das Ergebnis dem Spielverlauf zu einhundert Prozent entsprach.
Von Beginn an war der Mannschaft von Trainer Miroslav Jagatic die Bedeutung dieses Derbys anzumerken. Mit dem letztwöchigen Punktgewinn aus Erfurt (0:0) im Rücken agierte die Elf frühzeitig mit jeder Menge Wille und Mut. Mit voller Leidenschaft ging man keinem Zweikampf aus dem Weg und riss die Partie bereits in der Anfangsphase an sich. Schon gleich zu Beginn hatten die 4500 Zuschauer den Torschrei auf den Lippen. Nach einem Eckball von Benjamin Boltze hätte der nach seiner Rotsperre wieder ins Team zurückgekehrte Kapitän Stefan Karau um ein Haar von einer zu kurzen Faustabwehr von Lok-Schlussmann Lukas Wenzel profitiert, doch die Kugel sprang von der Lattenunterkante ins Spielfeld zurück (4.). Auch in der Folgezeit setzten einzig die Chemiker Akzente im Spiel nach vorn, von der hochgepriesenen Lok-Offensive war insgesamt recht wenig zu sehen. So setzte Tomáš Petráček mit einem Distanzschuss das nächste Achtungszeichen, doch nach gutem Zuspiel von Tommy Kind strich die Kugel hauchzart über den Querbalken (14.). Als kurz darauf Daniel Heinze die nächste Offensiv-Aktion der Platzherren mit viel Übersicht einleitete, umkurvte Petráček zwar zunächst Robert Berger, doch anschließend trat der der Tscheche kurz vor dem Torabschluss aus verheißungsvoller Position auf den Ball, sodass die Gäste die Situation gerade noch bereinigen konnten (19.).
Der neutrale Beobachter rieb sich aufgrund der Anfangsphase verwundert die Augen. Nicht der bisher ungeschlagene, klare Favorit aus Probstheida diktierte die Szenerie – nein, der Underdog aus Leutzsch bestimmte das Geschehen. So kam die Führung für die BSG nicht von ungefähr, sondern spiegelte eindrucksvoll das Spielgeschehen der ersten halben Stunde wider. Verpasste Tommy Kind eine flache Eingabe von Alexander Bury zunächst nur um Haaresbreite, brachte Benjamin Boltze die Kugel von der rechten Seite zurück in die Gefahrenzone. Nach einer zu kurzen Kopfballabwehr von David Urban scheiterte Tomáš Petráček zwar mit seinem Schuss am gut reagierenden Lukas Wenzel, doch Florian Schmidt reagierte am schnellsten und nagelte das Streitobjekt aus Nahdistanz zum 1:0 unter die Latte (29.).
Doch auch nach diesem Gegentreffer fanden die Blau-Gelben im Offensivspiel keinerlei Mittel. Chemie wirkte in der Defensive extrem stabil und schaffte es nach Ballgewinnen immer wieder schnell und geradlinig nach vorn zu spielen. Als Tommy Kind eine Boltze- Flanke per Kopf auf den mitgelaufenen Alexander Bury verlängerte, hatte sich dieser zwar zunächst gegen Berger durchgesetzt, allerdings zögerte er daraufhin mit dem Abschluss zu lange, sodass Lok-Abwehrkante Patrick Wolf letztlich Endstation war (35.). Fünf Minuten später rollte der nächste gefährliche BSG-Angriff auf das Gäste-Gehäuse zu, der eigentlich das 2:0 nach sich hätte ziehen müssen. Nach einem Ballgewinn von Alexander Bury gegen Patrick Wolf bediente Tomáš Petráček den allein auf das Tor zulaufenden Tommy Kind, der jedoch – zum Entsetzen des Leutzscher Anhangs – im Eins-gegen-Eins-Duell gegen Lukas Wenzel nur zweiter Sieger blieb (40.). Somit hielt der junge Lok-Schlussmann, der seit Saisonbeginn den verletzungsgedingt fehlenden Stammtorhüter Benjamin Kirsten sehr gut ersetzt, seine Mannschaft im Spiel – über einen höheren Rückstand hätte sich Lok Leipzig bis zur Pause nicht beschweren dürfen. Im Offensivbereich kamen die Gäste auch weiterhin nicht über Ansätze hinaus. Einzig Aykut Soyak prüfte Benjamin Bellot einmal aus der Distanz, aber der Leutzscher Schlussmann ließ sich nicht überraschen (44.). Mit tosendem Applaus wurde die Elf von Trainer Miroslav Jagatic kurz darauf in die Halbzeitpause verabschiedet, die 1:0-Pausenführung war insgesamt mehr als verdient.
Auch mit Beginn der zweiten 45 Minuten sollte sich am Spielverlauf recht wenig ändern. Zum ersten Mal in der Saison schafften die Leutzscher eine sehr gute Balance zwischen defensiver Stabilität und mutigem Offensivspiel – und das im Derby! Fünf Minuten nach Wiederanpfiff erspielten sich die Grün-Weißen den nächste Hochkaräter, welchen man allerdings wiederum sträflich ausließ. Sehr gut von Alexander Bury eingeleitet lief Tomáš Petráček zwar zunächst Gäste-Kapitän Robert Zickert davon, doch anstatt auf den besser postierten Tommy Kind querzulegen, versuchte er es selbst und blieb am abermals stark reagierenden Lukas Wenzel hängen (50.). Quasi im Gegenzug deutete nun auch der 1. FC Lok erstmals seine Gefährlichkeit an. Gut von Maik Salewski inszeniert flankte Kevin Schulze die Kugel anschließend auf den ersten Pfosten, wo Goalgetter Matthias Steinborn per Kopf jedoch das kurze Eck verfehlte (51.).
Zwar waren die Gäste fortan etwas besser in der Begegnung, doch die Leutzscher blieben im Defensivbereich extrem stabil. Mit enormer Laufbereitschaft schafften es die Fünfeckträger immer wieder, das Geschehen vom eigenen Tor fernzuhalten. Was trotzdem in Richtung BSG-Strafraum kam, erstickte Schlussmann Benjamin Bellot mit starker Strafraumbeherrschung bereits im Keim. So fand Lok Leipzig im Offensivspiel kaum ein probates Mittel um die kompakte Leutzscher Defensive aus den Angeln zu heben. Nur ein einziges Mal kamen die Probstheidaer in der Folgezeit zum Abschluss, als der eingewechselte Stephane Mvibudulu über die Stationen Robert Berger und Matthias Steinborn blitzschnell abzog, Benjamin Bellot aber hellwach blieb (72.).
Trotzdem blieb Chemie Leipzig auch im Verlauf der zweiten Halbzeit die bessere Mannschaft, da man einfach präsenter wirkte und im Offensivbereich weiterhin gefährlicher blieb. Zunächst lenkte Lok-Keeper Wenzel einen Freistoß von Benjamin Boltze spektakulär über die Querlatte (66.), anschließend verfehlte ein abgefälschter Schuss von Tomáš Petráček äußerst knapp das kurze Eck, nachdem der Tscheche vorher sehr gut vom eingewechselten Max Keßler in Szene gesetzt wurde (75.). Doch nur vier Minuten später sollte der Underdog auf 2:0 erhöhen – ein wahres Traumtor, welches den Alfred-Kunze-Sportpark förmlich zum Überkochen brachte. Nach einem weiten Ball von Benjamin Bellot und anschließender Kopfballverlängerung von Tommy Kind nutzte Max Keßler das etwas zu inkonsequente Zweikampfverhalten von Patrick Wolf und legte die Kugel auf Daniel Heinze ab, welcher mit einem phänomenalen Linksschuss ins obere Kreuzeck die Leutzscher endgültig auf die Siegerstraße brachte (79.).
Von diesem zweiten Gegentreffer erholte sich der Favorit nun nicht mehr. Zwar traf Stephane Mvibudulu nach Zuspiel von David Urban den Außenpfosten des BSG-Gehäuses, doch Bellot wäre auch hier rechtzeitig zur Stelle gewesen (89.). Mit Überzeugung und Selbstvertrauen gestalteten die Chemiker die restlichen zehn Minuten und hätten kurz vor Schluss sogar noch einen draufsetzen können. Nach einem Abwurf des Leutzscher Schlussmannes versetzte Max Keßler mit einem unwiderstehlichen Sololauf die komplette Gäste-Hintermannschaft, doch allein vor Wenzel blieb der grün-weiße Youngster letztlich nur zweiter Sieger (90.).
Auch diese vergebene Großchance sollte an dem mehr als verdienten und vielumjubelten Chemie-Sieg im Derby nichts mehr ändern. Mit einer herausragenden Mannschaftsleistung zwang die Elf von Trainer Miroslav Jagatic den hohen Favoriten in die Knie und konnte sich im Anschluss daran gebührend von den Fans feiern lassen. So komisch es klingen mag, aber letztlich hätte der Chemie-Erfolg sogar noch höher ausfallen können. Nichtsdestotrotz gibt es auch für einen Derbysieg nur drei Punkte, diese aber waren aus BSG-Sicht nach dem kraftraubenden September extrem wichtig. Allerdings gilt es das Resultat richtig einzuordnen, die Erwartungshaltung im Leutzscher Lager wird in den kommenden Wochen aufgrund dieses Resultats definitiv nicht geringer werden. Die folgenden Meisterschafts-Aufgaben werden mit den Begegnungen in Cottbus und daheim gegen Auerbach mit Sicherheit nicht einfacher, doch die Elf hat im Derby gezeigt, was mit mannschaftlicher Geschlossenheit alles möglich ist.
Nun gilt es am kommenden Wochenende in der 3. Hauptrunde des Wernesgrüner-Sachsenpokals seiner Favoritenrolle gerecht zu werden. Gegner ist am Sonntag um 14:00 Uhr Sachsenligist FSV Budissa Bautzen (Spielort: Stadion Müllerwiese), der in der vergangenen Saison noch in der Regionalliga spielte, anschließend jedoch auf Landesebene zurückzog. In Vorbereitung auf diese Pokal-Partie bestreiten die Leutzscher am Dienstagabend zusätzlich noch ein kurzfristig vereinbartes Testspiel. Dann gastieren die Fünfeckträger um 19:00 Uhr beim Sachsenligisten Kickers 94 Markkleeberg.
BSG Chemie Leipzig – 1. FC Lokomotive Leipzig 2:0 (1:0)
BSG Chemie Leipzig: Benjamin Bellot – Benjamin Boltze, Stefan Karau, Benjamin Schmidt, Manuel Wajer – Daniel Heinze (81. Björn Nikolajewski), Andy Wendschuch – Florian Schmidt (70. Max Keßler), Alexander Bury – Tommy Kind, Tomáš Petráček (78. Elvir Ibiševic) – Trainer: Miroslav Jagatic
1. FC Lokomotive Leipzig: Lukas Wenzel – David Urban, Patrick Wolf, Robert Zickert – Maik Salewski (76. Sascha Pfeffer), Paul Schinke – Robert Berger, Aykut Soyak (46. Stephane Mvibudulu), Kevin Schulze (60. Romarjo Hajrulla) – Matthias Steinborn, Djamal Ziane – Teamchef: Björn Joppe
Schiedsrichter: Steven Greif (Westhausen) – Schiedsrichter-Assistenten: Richard Hempel (Großnaundorf), Benjamin Seidl (Langenbernsdorf)
Tore: 1:0 Florian Schmidt (29.), 2:0 Daniel Heinze (79.)
besondere Vorkommnisse: Verwarnung für Björn Joppe (1. FC Lok) wegen Unsportlichkeit (Meckern, 82.)
Zuschauer: 4500 im Alfred-Kunze-Sportpark zu Leipzig-Leutzsch (keine Gäste)