Eigentlich sollte das letztwöchige Benefizspiel bei Bundesligist Eintracht Frankfurt das absolute Saisonhighlight unserer Regionalliga-Mannschaft werden, doch was sich am Mittwochabend im Nachholspiel beim VfB Germania Halberstadt ereignen sollte, toppt dies in sportlicher Hinsicht um ein Vielfaches. Dabei erlebten die 776 Zuschauer im Halberstädter Friedensstadion ein wahres Spektakel – unterschiedlicher können zwei Halbzeiten wirklich nicht sein. Nach dem 0:3 zur Halbzeit gab es nicht mehr viele, die noch etwas auf die Mannschaft von Trainer Miroslav Jagatic setzten. Umso sensationeller ist es, dass Chemie das Spiel noch bis auf ein 3:3 umbiegen konnte; bei Björn Nikolajewskis Treffer in der 86. Minute stand der Gästeblock geradezu Kopf.
Vieles wurde im Vorfeld über die Ansetzung dieser Nachhol-Begegnung geschrieben – die Leutzscher wollten diesbezüglich die passende Antwort auf dem Platz geben. Allerdings spielte in den ersten 45 Minuten nur eine Mannschaft – und das war Germania Halberstadt. Die Chemiker liefen frühzeitig nur hinterher, spielten nach vorn komplett ohne Mut sowie viel zu fehlerhaft und stolperten im Rückwärtsgang von einer Verlegenheit in die nächste. Die Harzer waren viel präsenter, wirkten gedanklich schneller und profitierten immer wieder von Unzulänglichkeiten in der Leutzscher Defensive. Bereits in der Anfangsphase hatten die Gastgeber drei dicke Möglichkeiten, um in Führung zu gehen. Zunächst profitierte Dennis Blaser von einem zu kurz geratenen Rückpass Benjamin Boltzes – Björn Nikolajewski rettete per Kopf auf der Torlinie für den bereits geschlagenen Schlussmann Benjamin Bellot (7.). Beim folgenden Eckball von Tino Schulze lief Luca-Falk Menke geschickt auf den ersten Pfosten ein, doch der Germania-Rechtsverteidiger nickte die Kugel über den Querbalken (8.). Vier Minuten später waren gewonnene Zweikämpfe von Justin Bretgeld gegen Raffael Cvijetkovic und Philipp Wendt der Ausgangspunkt für die nächste vielversprechende Gelegenheit der Harzer, aber Benjamin Bellot reagierte beim anschließenden Schuss von Batikan Yilmaz überragend (12.).
Ein Leutzscher Offensivspiel fand in der Anfangsphase überhaupt nicht statt. Viel zu schnell wurden die Bälle verloren, weiterhin prägten Missverständnisse und Fehlpässe in großer Anzahl das Chemie-Spiel. Man hatte überhaupt keinen Zugriff auf den Gegner, sodass die Halberstädter Führung nur allzu logisch war und komplett dem Spielverlauf der ersten 15 Minuten entsprach. Nach einem Ballgewinn gegen Daniel Heinze startete Stefan Korsch mit einem energischen Antritt über den halben Platz, die anschließende flache Eingabe von Fabian Wenzel rutschte bis zum zweiten Pfosten durch, wo Batikan Yilmaz wenig Mühe hatte aus Nahdistanz zu vollenden – 1:0 (16.). Zwar waren die Gäste nach diesem Nackenschlag bemüht, den Schaden sofort zu reparieren, doch ließen ihre zwei ersten Torannäherungen jegliche Gefährlichkeit vermissen. Nach einem Eckball von Benjamin Boltze – verbunden mit einer zu kurzen Faustabwehr von Germania-Keeper Kilian Neufeld – verfehlte Björn Nikolajewski ebenfalls das Ziel wie kurz darauf Raffael Cvijetkovic nach gelungener Einzelleistung (18., 21.). Diese Leutzscher Offensivaktionen waren jedoch eine Seltenheit, Halberstadt diktierte klar die Szenerie. Demzufolge kam das 2:0 nicht von ungefähr. Sehr gut von Fabian Wenzel eingeleitet passte Justin Bretgeld die Kugel von der rechten Seite flach in Richtung erster Pfosten – Dennis Blaser lief geschickt ein und ließ Bellot aus Nahdistanz nicht die Spur einer Chance (22.).
Dieser zweite Gegentreffer hinterließ bei der Jagatic-Elf deutliche Spuren. Teilweise musste man richtig Angst um die Leutzscher haben, da quasi jeder Halberstädter Angriff Torgefahr heraufbeschwor. Von der defensiven Stabilität, welche die Mannschaft seit Wochen auszeichnete, war in den ersten 45 Minuten nicht im Geringsten etwas zu sehen, stattdessen agierte die Elf im Rückwärtsgang teilweise wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen. Nur der völlig fahrlässigen Halberstädter Chancenverwertung war es zu verdanken, dass die Gastgeber nicht weiter erhöhten. So scheiterte zunächst Justin Bretgeld am gut reagierenden Benjamin Bellot (24.), anschließend verfehlte Batikan Yilmaz nach einer Korsch-Ecke per Hacke knapp das Ziel (25.). Die beste Möglichkeit ließen die Harzer allerdings wenig später ungenutzt. Erneut war Stefan Korsch mit seiner Schnelligkeit Ausgangspunkt dieser Gelegenheit, nach dem anschließendem Querpass von Patrick Twardzik hätte sich Fabian Wenzel eigentlich die Ecke aussuchen können, doch verfehlte er völlig freistehend den Chemie-Kasten (38.).
Die Gastgeber hätten längst höher führen müssen, die Leutzscher konnten sich glücklich schätzen, dass die Platzherren vor dem Tor derart sündigten. So blieb die Jagatic-Elf erst einmal im Spiel und hatte vier Minuten vor der Pause sogar die große Möglichkeit zum Anschlusstreffer. Gut von Manuel Wajer eingeleitet, versuchte sich Tomáš Petráček per Flachschuss, allerdings tauchte Kilian Neufeld im Germania-Tor rechtzeitig ab (39.). 120 Sekunden später dann jedoch der nächste Nackenschlag für die Fünfeckträger, den die meisten der Zuschauer mit Sicherheit als Vorentscheidung ansahen: Nach einem Eckball von Stefan Korsch köpfte Dennis Blaser die Kugel zurück in die Gefahrenzone – Luca-Falk Menke schraubte sich am Fünfmeterraum am höchsten und nickte zum 3:0 ein (41.). Zwar besaßen die Chemiker kurz vor dem Pausenpfiff die Chance zur Ergebniskosmetik, als Raffael Cvijetkovic nach gelungener Einzelleistung an Neufeld scheiterte und Florian Schmidt die anschließende flache Eingabe von Alexander Bury über den Kasten jagte (45.+1), insgesamt aber war der Auftritt des Regionalliga-Aufsteigers in den ersten 45 Minuten absolut enttäuschend. Letztlich konnte man froh sein, nur drei Gegentreffer hinnehmen zu müssen – sodass Trainer Miroslav Jagatic in der Kabine einige deutliche Worte finden musste. Nichtsdestotrotz war es dem Coach jedoch auch wichtig, seiner Elf – trotz des negativen Spielverlaufs – Mut und Zuversicht für die 45 Minuten mitzugeben. Die Mannschaft müsse weiterhin daran glauben, ein Tor könnte der Begegnung ganz neue Vorzeichen verleihen.
Und genau diese Worte des Chemie-Trainers schienen sich zu Beginn des zweiten Durchgangs in den Köpfen der Spieler festgesetzt zu haben. Zwar setzten die Germanen das erste Achtungszeichen, als ein Schuss von Fabian Wenzel knapp über den Querbalken strich (46.), doch die Chemiker wirkten fortan viel präsenter. Die Leutzscher agierten nun viel mutiger, liefen den Gegner viel aggressiver an – all das, was in den ersten 45 Minuten schmerzlich vermisst wurde. Dementsprechend wurde man offensiv deutlich gefährlicher, was sich sofort beim Gegner bemerkbar machen sollte. Sehr gut von Alexander Bury eingeleitet zog Raffael Cvijetkovic beherzt aus halblinker Position ab, jedoch lenkte Neufeld das Streitobjekt spektakulär über die Latte (49.). Hinzu kam, dass sich die Gastgeber frühzeitig selbst schwächten. Der bereits verwarnte Batikan Yilmaz ließ sich im Mittelfeld zu einem Foulspiel gegen den Ex-Germanen Benjamin Boltze hinreißen – Schiedsrichter Daniel Bartnitzki (Erfurt) stellte den Halberstädter Angreifer daraufhin mit Gelb-Rot vom Platz (55.). Dies war das Signal für die Grün-Weißen, welche fortan in Überzahl mit Vehemenz ihre Offensivbemühungen forcierten. Raffael Cvijetkovic setzte von der Strafraumgrenze eine weitere Duftmarke (vorbei, 57.), kurz darauf gelang den Leutzschern der Anschlusstreffer. Sehenswert vom eingewechselten Valentino Schubert über die rechte Seite eingeleitet konnte Neufeld zwar den Schuss des ebenfalls ins Spiel gekommenen Max Keßler parieren, danach drückte aber Tommy Kind das Streitobjekt aus Nahdistanz zum 3:1 über die Linie (59.).
Mit diesem Treffer war der Glaube an eine mögliche Wende bei den Fünfeckträgern sofort wieder vorhanden, zumal noch eine knappe halbe Stunde zu spielen war. Man wollte dieses Momentum des Anschlusstreffers sofort ausnutzen, allerdings agierten die Leutzscher in der Folgezeit nicht ruhig genug. Man wollte zeitweise gleich zu viel und operierte in einigen Phasen zu früh mit dem langen Ball, anstatt durch gelungenes Passspiel auf die sich bietenden Chancen zu warten. An der jungen Halberstädter Mannschaft (13 von 18 im Kader stehenden Spielern waren unter 23 Jahre) ging dieser Gegentreffer nicht spurlos vorbei. Der Kopf spielte bei der Germania in der Folgezeit eine große Rolle, fortan beschränkten sich die Gastgeber einzig auf die Sicherung des Ergebnisses. Offensivgefahr versprühten die Harzer nur noch einmal, als der auffällige Stefan Korsch den besser postierten Fabian Wenzel einsetzte, Benjamin Bellot im BSG-Gehäuse jedoch auf der Hut war (60.).
So verlagerten die Leutzscher das Spielgeschehen mehr und mehr in die gegnerische Hälfte, doch richtig gefährlich wurde es vor dem Halberstädter Tor zunächst nicht. Dies sollte sich allerdings in der Schlussphase ändern, in denen die Jagatic-Elf noch einmal alles investierte. Mit großer Vehemenz drängte die BSG nun auf das 3:2, der unbedingte Wille war dem Team absolut anzumerken. Neun Minuten vor Ende wurden die Hoffnungen auf eine Leutzscher Wende im Spiel plötzlich bekräftigt, als Schiedsrichter Bartnitzki nach einem Strafraum-Foulspiel von Stefan Korsch am durchgebrochen Valentino Schubert auf den ominösen Punkt zeigte. Tommy Kind ließ sich daraufhin nicht zweimal bitten und verwandelte den Elfmeter sicher zum 3:2-Anschluss (81.). Die BSG war auf einmal wieder im Spiel, eine scheinbar schon verlorene Partie wurde plötzlich wieder spannend. Die Chemiker drückten weiter und belohnten sich wenig später für die deutliche Steigerung in den zweiten 45 Minuten. Nachdem sich Raffael Cvijetkovic zunächst an der Strafraumgrenze festrannte, gelangte das Streitobjekt zu Björn Nikolajewski, der Neufeld mit einem Schlenzer ins obere Eck keine Abwehrchance ließ – 3:3 (86.). Der Jubel im Leutzscher Lager war anschließend grenzenlos, dank einer enormen Willensleistung und großer Moral fanden die Fünfeckträger zurück in die Begegnung. Um ein Haar hätten die Chemiker diese spektakuläre Begegnung sogar noch komplett gedreht, doch Tomáš Petráček übersah nach klasse Vorarbeit von Raffael Cvijetkovic die besser postierten Mitspieler – sein Schuss strich letztlich knapp am Ziel vorbei (88.). Allerdings ist zu sagen, dass ein Leutzscher Sieg vielleicht etwas zu viel des Guten gewesen wäre.
Aufgrund des nahezu hoffnungslosen Pausenrückstandes nehmen die Fünfeckträger letztlich diesen einen Punkt gern mit nach Leipzig – die BSG war definitiv der moralische Sieger. Diesen Zähler hätten aufgrund des Spielverlaufs in den ersten 45 Minuten zwar nur noch die kühnsten Optimisten vorhergesagt, doch das Spiel zeigte eindrucksvoll, was im Fußball möglich ist, wenn man daran glaubt. Nach der Gelb-Roten Karte gegen den Halberstädter Batikan Yilmaz (55.) drehten die Fünfeckträger plötzlich auf und zogen sich als Kollektiv gemeinschaftlich aus dem Sumpf.
Für die Elf von Trainer Miroslav Jagatic gilt es nun schnell zu regenerieren, schließlich steht am Sonntag bereits die nächste schwere Aufgabe an. Um 13:30 Uhr gastieren die Leutzscher dann im altehrwürdigen Berliner Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, wo man bei der heimstarken VSG Altglienicke die Visitenkarte abgibt.
VfB Germania Halberstadt – BSG Chemie Leipzig 3:3 (3:0)
VfB Germania Halberstadt: Kilian Neufeld – Luca-Falk Menke, Pascal Schmedemann, Michael Ambrosius, Tino Schulze – Justin Bretgeld (77. Ibrahim Mirza Aral), Patrick Twardzik – Fabian Wenzel, Stefan Korsch (85. Mardochee Tchakoumi) – Dennis Blaser (71. Nico Hübner), Batikan Yilmaz; Trainer: Sven Körner
BSG Chemie Leipzig: Benjamin Bellot – Manuel Wajer (46. Valentino Schubert), Benjamin Boltze, Björn Nikolajewski, Philipp Wendt – Florian Schmidt (56. Max Keßler), Daniel Heinze (67. Benjamin Schmidt), Tommy Kind, Alexander Bury, Raffael Cvijetkovic – Tomáš Petráček; Trainer: Miroslav Jagatic
Schiedsrichter: Daniel Bartnitzki (Erfurt) – Schiedsrichter-Assistenten: Johannes Drößler (Gotha), Florian Butterich (Adelhausen)
Tore: 1:0 Yilmaz (16.), 2:0 Blaser (22.), 3:0 Menke (41.), 3:1 Tommy Kind (59.), 3:2 Tommy Kind (81., Foulstrafstoß), 3:3 Björn Nikolajewski (86.)
Zuschauer: 776 im Friedensstadion zu Halberstadt